Prof H Vatter ANIM TL UK BonnInterdisziplinär, interprofessionell und international - die 40. Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin (ANIM) vom 19. bis 21. Januar 2023 in Berlin ist wieder vielfältig aufgestellt. Von aktuellen Entwicklungen in der NeuroIntensivmedizin bis hin zu neuen Erkenntnissen neurologischer Auswirkungen von COVID-19 erwartet die Teilnehmer ein umfassendes Update in Vorträgen renommierter Expert:innen, praxisorientierten Workshops, Fortbildungskursen und Symposien. Prof. Dr. Hartmut Vatter, Bonn, Kongresspräsident der gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG), gibt im Interview erste Einblicke in wissenschaftliche Themenschwerpunkte und Highlights.

Drei spannende Tage lang werden neue Erkenntnisse in Forschung und Wissenschaft vorgestellt und Auswirkungen auf die klinische Praxis diskutiert. Welche Schwerpunkte haben Sie gesetzt? Welche Themen liegen Ihnen besonders am Herzen?

Prof. Vatter: Letztlich haben wir zwei Schwerpunkte gesetzt: zum einen Entzündung und Immunologie in der Neuro-Intensivmedizin - ein medizinisch-wissenschaftliches Thema. Entzündliche Prozesse scheinen eine pathophysiologische Grundlage darzustellen, die für verschiedenste Erkrankungen einen zunehmenden Stellenwert bekommen. Hier sind wir meines Erachtens im Augenblick an einer Schwelle zwischen Grundlagenforschung und deren möglicher Anwendung auf verschiedene neurologisch-neurochirurgische Erkrankungen, insbesondere in der Neuro-Intensivmedizin.
Das zweite Schwerpunktthema ist die Spezifität der NeuroIntensivmedizin, und das vor allem vor dem Hintergrund von demographischen- und Umweltveränderungen. Hier war vor allem der massive Bettendruck im Rahmen der COVID-19-Pandemie Motor und Denkanstoß. Die Frage, wie spezifisch und unersetzbar die NeuroIntensivmedizin innerhalb der Intensivmedizin ist, welche Aspekte der NeuroIntensivmedizin nicht beliebig austauschbar und durch eine internistische oder eine rein anästhesiologische Intensivmedizin abgedeckt werden können, bleibt auch bei begrenzten Kapazitäten essentiell. Dies ist auch die zentrale Frage im Präsidentensymposium und wird die ganze ANIM-Tagung begleiten.

Als Kongresspräsident der ANIM 2023 haben Sie Ihr Augenmerk auf die enge interdisziplinäre Verzahnung der neurologischen und neurochirurgischen Notfall- und Intensivmedizin gelegt. Weshalb ist Interdisziplinarität gerade in diesen Bereichen so wichtig?

Prof. Vatter: Gerade in der modernen Medizin ist die Vorstellung, dass es einen ‚Alleskönner‘ geben muss, einfach überholt. Deswegen kommt es ganz wesentlich darauf an, dass jeder das macht, was er tatsächlich am besten kann und woraufhin seine Ausbildung auch spezialisiert ist. Die NeuroIntensivmedizin stellt dabei mit Sicherheit eine Schnittmenge dar. Hier kommt es darauf an, dass anästhesiologische, internistische, neurologische und neurochirurgische Kompetenz gebündelt wird. Diese muss selbstverständlich durch eine optimale Bildgebung, die Möglichkeit für neuroradiologische Interventionen, spezifische therapeutische und pflegerische Konzepte sowie durch die Neuropsychologie unterstützt werden.

Neben klassischen fachspezifischen Themen wie Schlaganfall einschließlich Gehirn- und Subarachnoidalblutung liegt ein besonderer Fokus der ANIM 2023 auf der Frage: Welche Teile der hochkomplexen fachspezifischen Behandlung müssen auf entsprechend ausgerüsteten und geschulten Neuro-Intensivstationen durchgeführt werden? In welchen Fällen kann auch erfolgreich auf wesentlich breiter verfügbaren, allgemein intensivmedizinischen Stationen behandelt werden?

Prof. Vatter: Diese Diskussion soll ein zentrales Thema der diesjährigen ANIM werden. Dabei sind zwei Aspekte besonders relevant, zum einen die Krankheitsbilder selbst und zum anderen deren zeitlicher Verlauf. Die erste Phase einer Subarachnoidalblutung, eines Hirninfarktes, einer Gehirnblutung oder eines Schädel-Hirn-Traumas erfordert Expertise aus den Fachgebieten der Neurologie, Neurochirurgie und Neuroradiologie wie beispielsweise zur Behandlung des Hirnödems, der zerebralen Perfusionsstörung und der Blutungsquelle. Patienten in dieser frühen Phase in einer allgemeinen intensivmedizinischen Einheit behandeln zu lassen, empfinde ich persönlich als kritisch. Wie und wo in der weiteren Krankheitsphase und auch in späteren Phasen Behandlungsabläufe optimal gestaltet werden können, wird innerhalb der ANIM diskutiert werden.

Die ANIM verbindet nicht nur Forschung und Praxis der neuromedizinischen Fachrichtungen, sondern auch im Pflege- und Therapiebereich. Unter anderem gibt es Tutorials und Sitzungen speziell für Pflegekräfte und Therapeuten. Worin liegt die besondere Herausforderung der Zusammenarbeit?

Prof. Vatter: Ähnlich wie die Zusammenarbeit zwischen Neurologen, Neurochirurgen, Internisten und Anästhesisten funktioniert eine NeuroIntensivstation selbstverständlich nur, wenn die Mitarbeiter:innen der Pflege, Physio- und Ergotherapie und vor allem der Logopädie fest in die Behandlung integriert sind. Die Herausforderung liegt in meinen Augen darin – und das unterstreicht die Wichtigkeit des gemeinsamen Kongresses –, dass die einzelnen Fachrichtungen und auch der Pflege- und Therapiebereich miteinander interagieren, sich austauschen und nicht nur nebeneinander existieren. Auch dies ist ein wesentlicher Punkt innerhalb der ANIM 2023.

Auch COVID-19 wird ein Thema sein. Wenn das Coronavirus das Nervensystem befällt, wird eine Vielzahl neurologischer Manifestationen beobachtet. Welche COVID-19-assoziierten Störungen wie etwa Verlust des Geruchssinns werden beim Kongress diskutiert? In welchen Bereichen sind weitere Erkenntnisse zu erwarten?

Prof. Vatter: Ein wesentlicher Gesichtspunkt scheint ja das sogenannte Long-COVID-Syndrom mit unterschiedlichen neuropsychologischen Aspekten zu sein. Dies steht nicht im Zentrum der NeuroIntensivmedizin, sondern tritt erst im weiteren Verlauf auf und wird vermutlich – auch aufgrund der großen Anzahl Betroffener – eine soziologische Bedeutung erhalten.

Ein weiterer Tagungsschwerpunkt ist der Einfluss von demographischem Wandel und Umweltfaktoren auf die Anzahl der Patienten, die neurointensivmedizinisch zu versorgen sind. Welche Konzepte werden diskutiert, die Versorgungsstrukturen nachhaltig zu optimieren?

Prof. Vatter: Der zentrale Punkt des demographischen Wandels ist vor allem das Älterwerden der Bevölkerung. Dementsprechend ist mit einer immer größeren Anzahl von Schlaganfallpatienten zu rechnen, die entsprechend behandelt werden müssen. Zudem sind die intensivmedizinischen Herausforderungen auch bei älteren Schädel-Hirn-Trauma Patienten und allen anderen Erkrankungen im höheren Alter erheblich größer. Es geht um die Mischung einer flächendeckenden und trotzdem qualitativ hochwertigen Versorgung von relativ häufigen Erkrankungen und einer hoch spezialisierten Behandlung von bestimmten Erkrankungen wie z.B. Gehirnblutungen aufgrund von Gefäßmalformationen, die einfach aufgrund der geringeren Inzidenz nur an wenigen Zentren durchgeführt werden können, die mit Erreichen einer bestimmten Fallzahl eine ausreichende Expertise haben. Diese Versorgung soll durch neurovaskuläre Netzwerke und neurovaskuläre Zentren aufgefangen werden, die miteinander interagieren und so eine räumliche Versorgung auf hohem Niveau ermöglichen.

Inwieweit könnten virtuelle Schulungsmaßnahmen und Simulationstrainings geeignet sein, eine neurointensivmedizinische Versorgung auf hohem Niveau zu unterstützen?

Prof. Vatter: Virtuelle Konferenzen haben in den letzten zwei Jahren den Austausch vereinfacht, weil es leichter geworden ist, sich – zumindest virtuell – zu treffen. Aber bei virtuellen Schulungsmaßnahmen muss ich gestehen, dass ich eher etwas skeptisch bin, weil sie die Interaktion nicht unbedingt fördern. Eine Maßnahme, die die Qualität der neurointensivmedizinischen Versorgung in einem gewissen Rahmen verbessert, ist die Tele-Radiologie. Die Entscheidungsfindung über Tele-Neurologie mit klinischer Beurteilung von Patienten mittels Videoübertragung betrachte ich ein wenig skeptisch. Dies ist lediglich eine persönliche Einschätzung und diese Verfahren sind bisher auch nicht flächendeckend verfügbar.

Das Präsidentensymposium, das traditionell thematisch frei vom Kongresspräsidenten gestaltet wird, ist wieder ein besonderes Kongress-Highlight. Was wird das besondere Thema Ihres Symposiums sein…?

Prof. Vatter: Das Präsidentensymposium beschäftigt sich vor allem mit der Spezifität der NeuroIntensivmedizin und ich freue mich besonders darüber, herausragende Vertreter der internistischen und anästhesiologischen Intensivmedizin, der Schlaganfallmedizin und jeweils einen Vertreter der NeuroIntensivmedizin der deutschen und der Nordamerikanischen Fachgesellschaft auf eine Bühne zu bekommen. Ich hoffe, dass nach den Impulsreferaten, die die jeweilige Sicht der Fachdisziplin darstellt, eine breite Diskussion stattfinden wird.

Von der präklinischen Notfallversorgung bis zu den ersten Reha-Maßnahmen bietet die ANIM 2023 wieder vielfältige Themen mit einem großen Fort- und Weiterbildungsangebot. Inwieweit ist der medizinische und wissenschaftliche Nachwuchs mit eingebunden?

Prof. Vatter: Der medizinisch-wissenschaftliche Nachwuchs ist schon allein deswegen eingebunden, weil über 100 Abstracts von verschiedenen Kolleg:innen eingereicht wurden, die neben ihren Arbeiten, ihren Erkenntnissen und ihren aktuellen Themen auch ihre speziellen Fälle präsentieren werden. Weiterhin freue ich mich ganz besonders, dass die ANIM wieder in Präsenz stattfindet, sodass wir einen regen Austausch erwarten, der naturgemäß in Präsenz erheblich einfacher ist als in virtuellen Konferenzen.

Wir bedanken uns sehr herzlich für das Interview!


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