Varrato J, Siderow A, Damiano P, Gregory S, Feinberg D, McCluskey L
Neurology 2001;57:357-59


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 1-2002


Bewertung: ***





Zielstellung:

Die Messung der Vitalkapa zität (VK) wird als Standartmethode zur Beurteilung der Atemfunktion von ALS-Patienten empfohlen. Eine Minderung der VK auf 7,5% als pathologisch angesehen.

Design:

eFVC und sFVC wurden bei 38 ALS-Patienten (sämtlich Nichtraucher) gemessen und mit Messungen von 15 Normalpersonen verglichen. Der Zusammenhang mit Symptomen der (nächtlichen) Hypoventilation, die mit Hilfe eines (nicht validierten) Fragebogens erfragt wurden, wurde beurteilt. Die statistische Analyse erfolgte mit dem t-Test.

Wichtige Resultate:

Die mittlere, bei auf rechter Körperhaltung gemessenen eFVC der ALS-Patienten betrug 80,6% (range 40 – 113%) des Erwartungswertes. Die mittlere, im Liegen gemessene sFVC betrug jedoch nur 69% (range 22 – 107%). Während bei den Normalpersonen die sFVC im Liegen nur um 6,2% abnahm, verminderte sich diese bei den ALS-Patienten im Mittel um 15,6% (range 0 – 45%). Sieben von 43 Patienten, die in auf rechter Position eine eFVC > 50% hatten, wiesen im Liegen ein sFVC unter 50% auf.
Es fand sich ein signifikanter Zusammen hang zwischen dem eFVC – sFVC und den Symptomen Dyspnoe, Orthopnoe so wie Tagesmüdigkeit (p = 0,02; 0,006 und 0,001).

Schlussfolgerung:

Als Ausdruck der Zwerchfellparese nimmt bei ALS-Patienten die Vitalkapazität im liegen (sFVC) gegen über der aufrecht gemessenen (eFVC) verglichen mit einem Normkollektiv - hochsignifikant ab. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen dieser Abnahme der FVC im Liegen und typischen Symptomen einer Atemstörung, wie Orthopnoe, Dyspnoe und Tagesmüdigkeit. Die Autoren interpretieren den Zusammenhang von Tagemüdigkeit und sFVC – eFVC als Folge der Zwerchfellparese. Da es bei einer Schwäche des Zwerchfells typischerweise zu REM-Schlaf assoziierten Atemstörungen mit konsekutiven Arousal-Reaktionen komme, erkläre sich hierdurch die Tagesmüdigkeit. Entsprechend wird von den Autoren die Differenz eFVC – sFVC als Screeningparameter für nächtliche Atemstörungen empfohlen. Da offensichtlich Medicare in den USA die Kosten einer BIPAP-Beatmung nur über nimmt, wenn die FVC unter 50% liegt, for dern die Autoren auch, die im Liegen gemessene sFVC als objektiven Parameter zur frühzeitigen Indikation der BIPAP-Beatmung heranzuziehen.

Kommentar:

Varrato et al. weisen mit dieser sehr einfach durchgeführten Untersuchung mit Recht auf das in der täglichen Praxis oft viel zu wenig beachtete Problem der Zwerchfellschwäche bei der ALS hin. Es ist ein Verdienst der Autoren auf die hinreichend bekannte Tatsache einer Ab nahme der Vitalkapazität im Liegen bei Zwerchfellparesen als leicht bestimmbaren Parameter in einem neurologischen Journal hinzuweisen. Leider geschieht dies unter weitgehender Nichterwähnung der zu diesem Thema Anfang der 90er Jahre erschienenen pulmologischen Literatur. Eine objektive Messung der Zwerchfellkraft (Pimax oder Sniff-Pdi) als Vergleichsparameter wurde nicht durch geführt. Leider wurden auch weder Bulbärsymptomatik, noch Tagesmüdigkeit oder Dyspnoe mit heute allgemein üblichen Scores erfasst, so dass die statistische Analyse vor dem Hintergrund des hochsignifikanten Zusammenhangs einzelner Symptome einer Atemstörung, die oft sehr unspezifisch sind, und des Abfalls der FVC im Liegen doch auf etwas wackligen Beinen steht. Ebenso fehlt eine Korrelation der durchgeführten Messungen mit objektiven Daten eines nächtlichen Monitorings. Zumindest eine Dokumentation nächtlicher Sauerstoffentsättigungen wäre hier ergänzend sinnvoll gewesen.
Der Schlussfolgerung der Autoren, dass die im Liegen gemessene sFVC und e-sFVC Bestandteil der diagnostische Routine einer neuromuskulären Ambulanz sein sollten, ist zuzustimmen. Jedoch sollte auch auf die entsprechenden klinischen Zeichen der Zwerchfellschwäche (Orthopnoe, paradoxe Bauchatmung im Liegen, Schlafen mit erhöhtem Kopfteil) hingewiesen werden. Eine Beurteilung der nächtlichen Atmung bei entsprechen den Symptomen mittels Polysomnographie (oder zumindest Pulsoximetrie) wird diese Messung jedoch nicht ersetzen können.

(M. Winterholler)