Koo S, Kucher N, Nguyen PL, Fanikos J, Marks PW, Goldhaber SZ
In: Arch Intern Med 2004;164:1557-1560


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA  2 2006


Bewertung: ***





Zielstellung:

Die Rate von Blutungskomplikationen bei einer Therapie mit Antikoagulantien ist nicht gering: Unter Markumar beträgt die jährliche Inzidenz relevanter Blutungskomplikationen (major hemorrhage) 1-12%; die Inzidenz tödlicher Blutungen liegt bei 0,5-1,1%. In kontrollierten klinischen Studien, in denen die Patienten einem sorgfältigen Monitoring unterliegen, ist die Inzidenz von Blutungskomplikationen in der Regel niedriger als in Kohortenstudien, die die klinische Realität aber besser wiedergeben. Es ist gut bekannt, dass in der klinischen Praxis der therapeutische Zielbereich der INR bei vielen Patienten sehr häufig über- oder unterschritten wird. Koo et al. untersuchten die Auswirkungen einer exzessiven Antikoagulation auf die Mortalität und Morbidität von Patienten mit Blutungskomplikationen unter Antikoagulation.

Design:

Es handelt sich um eine monozentrische, prospektive Kohortenstudie im Brigham and Womens’s Hospital in Boston. Die Autoren untersuchten 101 Patienten, die über einen Zeitraum von 2 Monaten wegen relevanter Blutungskomplikationen unter Antikoagulantien (unfraktioniertes Heparin, niedermolekulares Heparin, Warfarin) stationär behandelt wurden. Als „exzessive Antikoagulation“ wurde definiert, wenn unter Therapie mit Warfarin die INR über dem intendierten Bereich, und bei Heparin die PTT mehr als 2,5 fach über dem oberen Normwert lag. Bei unfraktioniertem Heparin wurde als „exzessive Antikoagulation“ bezeichnet, wenn die übliche Dosis trotz Niereninsuffizienz verabreicht wurde, was offensichtlich in Boston recht oft praktiziert wird. Messungen der Xa-Aktivität wurden nicht vorgenommen. Die Autoren untersuchten die Effekte der Blutung, getrennt nach den Patienten mit „exzessiver“ und „non-exzessiver“ Antikoagulation, auf die Mortalität nach 60 Tagen und auf ein kombiniertes Outcome, das sich aus Schlaganfall, Herzinfarkt, schwere Hypotonie, schwere Anämie, und die Notwendigkeit zu einer chirurgischen oder interventionellen Therapie zur Blutstillung zusammensetzte.


Wichtige Resultate:

Bei 50 Patienten war die Blutung mit einer exzessiven, bei 51 Patienten mit einer non-exzessiven Antikoagulation assoziiert. Die Mortalität war bei den Patienten mit exzessiver Antikoagulation wesentlich höher als bei Patienten mit non-exzessiver Antikoagulation (26% versus 10%, p=0.03). Blutungen unter exzessiver Antikoagulation waren schwerer als unter non-exzessiver Antikoagulation: Diese Patienten benötigten wesentlich häufiger Blutprodukte oder Interventionen zur Blutstillung. Im Vergleich zwischen den Therapieformen war die Mortalität unter Warfarin höher als bei Blutungen unter Heparinen (p=0.049). 13% der Patienten hatten eine intrakranielle Blutung. Intrakranielle Blutungen waren mit einer hohen Mortalität assoziiert. Eine verhältnismässig hohe Zahl der Patienten (9%) entwickelte im Beobachtungszeitraum von 60 Tagen eine thrombotische Komplikation. Ein logistisches Regressionsmodell ergab exzessive Antikoagulation, intrakranielle Blutung und aktive Tumorerkrankung als unabhängige Prädiktoren der Mortalität.

Schlussfolgerungen:

Bei Antikoagulantien-assoziierten Blutungen trägt eine exzessive Antikoagulation unabhängig zur Morbidität und zur Mortalität nach 60 Tagen bei.

Kommentar:

Die Ergebnisse überraschen nicht: Je höher das Ausmass der Antikoagulation, desto schwerer die Blutung und desto höher die Mortalität. Die Schlussfolgerung erscheint als Binsenweisheit, und jeder von uns hätte diese Ergebnisse genau so erwartet. Dass die Autoren ihre Ergebnise als „provocative“ bezeichnen, ist deshalb nicht nachvollziebar. Offensichtlich hat sich aber bisher noch niemand die Mühe gemacht, diese Selbstverständlichkeit zu überprüfen, und somit kommt der Arbeit von Koo et al. doch eine gewisse Bedeutung zu. Es ist natürlich grundsätzlich zu begrüssen, wenn selbst scheinbare Selbstverständlichkeiten noch einmal kritisch wissenschaftlich überprüft werden. Manchmal kommen bei solchen Fleissarbeiten ja auch unerwartete Ergebnisse heraus - in diesem Fall allerdings nicht.
Die Arbeit ist methodisch gut gemacht. Es wäre allerdings wünschenswert gewesen, wenn bei der Therapie mit niedermolekularen Heparinen eine Messung der Xa-Aktivität vorgenommen worden wäre. Die Ergebnisse hätte dies aber wohl nicht beeinflusst. Wie in Studien dieser Art leider seit der weiten Verbreitung einfach zu bedienender statistischer Software üblich, konnten die Autoren nicht die Finger von ihrem Statistikprogramm lassen und haben eine multivariate Analyse durchgeführt, was aus der Sicht eines Biomathematikers bei diesen Daten bestenfalls höchst zweifelhaft ist. Die Ergebnisse dieser Analyse sind allenfalls als sehr explorativ zu bezeichnen.
Welche Bedeutung hat die Arbeit für den Intensiv-Neurologen? Die Brisanz des Themas Antikoagulation hat hier in den letzten Jahren deutlich abgenommen, seitdem die früher übliche Heparintherapie beim akuten Schlaganfall fast ganz aus der Mode gekommen ist und es nur noch wenige neurologische Indikationen für eine Antikoagulation als Akuttherapie gibt. Allerdings gibt es nach wie vor zahlreiche Patienten, die aus internistischer Indikation eine dauerhafte Therapie mit Antikoagulantien benötigen. Dass diese Patienten sorgfältig überwacht werden sollten, um eine exzessive Antikoagulation zu vermeiden, wussten wir schon früher. Dass Hirnblutungen die gefährlichste Blutungskomplikation unter Antikoagulantien darstellen, die mit einer hohen Mortalität assoziiert sind, wenn sie unter Antikoagulation auftreten, war auch schon vorher gut bekannt. Insofern liefert die Arbeit von Koo et al. keine neuen Aspekte, sondern bestätigt nur, was wir schon immer zu wissen glaubten.

(S. Schwarz)