Mit einer aktuellen Arbeit aus der Collaborative European NeuroTrauma Effectiveness Research in TBI (CENTER-TBI, https://www.center-tbi.eu) – Studie geben Steyerberg und Mitarbeiter im Lancet Neurology den Startschuss für einen möglichen Zeitenwechsel in der Neurotraumatologie (1). Die Daten von insgesamt 4.509 Patienten aus 18 europäischen Ländern (inklusive Israel), die in die Kernstudie eingeschlossen wurden, sowie die Daten von 22.782 Patienten aus dem parallel geführten strukturierten Register wurden hier in einer ersten gebündelten Arbeit zum case-mix, den Behandlungspfaden und den klinischen Ergebnissen ausgewertet. Zwischen Dezember 2014 und Dezember 2017 wurden an insgesamt 65 Zentren alle Patienten mit klinischer Diagnose „SHT“ und der Indikation zur CCT-Diagnostik in die Studie eingeschlossen, wenn sie innerhalb von 24h nach dem Ereignis untersucht werden konnten und eine Einwilligungserklärung nach den nationalen / lokalen Erfordernissen vorlag. Patienten wurden nach dem individuellen Behandlungspfad einem der drei strata zugeordnet: emergency room (ER) stratum, admission stratum, oder intensive care unit (ICU) stratum. Während in der Kernstudie eine detaillierte Datenerfassung multipler Aspekte des SHT erfolgte (epidemiologische Daten, klinische Parameter, Bildgebung, Blutwerte, Behandlungsintensität, etc.), wurden im Register in erster Linie administrative sowie einfache kennzeichnende Daten erfasst, die der Überprüfung der Generalisierbarkeit dienen sollen.

So zeigte sich in der Kernstudie, dass die Betroffenen nicht mehr dem überkommenen Bild „ansonsten gesunder junger Männer“ entsprachen. Im Vergleich zu früheren Studien waren die Patienten älter und kränker. Der Median der Altersverteilung lag bei 50 Jahren, 28% der Patienten waren älter als 65 Jahre. Etwa 11% hatten schwere Komorbiditäten und 18% nahmen zum Zeitpunkt des Unfalls Antikoagulanzien oder Thrombozytenaggregationshemmer ein. Die Mortalität war mit 15% im ICU stratum niedriger als erwartet, das klinisch-neurologische Outcome war jedoch, gemessen auf der extended Glasgow Outcome Scale (eGOS) nach 6 Monaten, nicht besser als erwartet. Ein schlechtes Ergebnis (eGOS<5) wurde hier bei 43% der Patienten beobachtet. Dem für Intensivmediziner weniger bedeutsam-erscheinenden „leichten SHT“ kommt natürlich durch die Häufigkeit und gesellschaftliche Aspekte (z.B. im Rahmen von Sport- und Freizeitverletzungen) ein besonderes Interesse zu. So zeigen die Auswertungen von Steyerbergs Gruppe, dass etwa 25% der Patienten aus dem ER stratum nach 6 Monaten noch nicht zu ihrem Befinden vor dem SHT zurückgefunden haben. Angesichts der Tatsache, dass diese Patienten oft ohne besondere Nachsorge und ohne therapeutische Optionen aus der Notaufnahme entlassen werden, ein ernüchterndes Ergebnis!

Neben ersten Analysen zur Bildgebung (CT und MRT) wurden die Messwerte von SHT-relevanten Biomarkern zusammengefasst. In der Prähospitalbehandlung sowie den späteren Behandlungspfaden fanden sich substanzielle Unterschiede zwischen den Ländern der EU. Es wird sicher noch einige Jahre brauchen, bis sich durch erste Erkenntnisse aus diesen Studien unser Vorgehen auf den NeuroIntensivstationen verändern wird. Aber die ersten Schritte in Richtung „Neurotraumatologischer Präzisionsmedizin“ werden jetzt gemacht.

Die Grundlagen der Netzwerkstudie mit einem Gesamtbudget von über 39 Millionen Euro fasste die aus >300 kollaborierenden Wissenschaftlern bestehende Gruppe bereits 2017 in einer Sonderausgabe von Lancet Neurology zusammen (2).

In dem insgesamt 62 Seiten starken Pamphlet wurde eine State-of-the-art-Erklärung abgelegt. Wie der Name der Studie bereits verrät, liegt der wissenschaftliche Ansatz in der in Observationsstudien zu erwartenden Variation, die mit statistischen Mitteln des comparative effectiveness research (CER) exploriert werden soll. Die komplexe Datensammlung zu den verschiedenen Aspekten des SHT erfolgte in unterschiedlichen Repositorien (z.B. Bildgebung, Genanalysen, physiologische Daten, Daten aus der Serumanalytik von Blutgerinnung und Biomarkern). Dass bei der fein-granulären Erfassung dieser Daten, ebenso wie der Daten zur konkreten Behandlung der betroffenen Patienten, je nach Land und Zentrum eine enorme Variation zu erwarten ist, soll mit den statistischen Mitteln des CER nun zu einem Vorteil „umgemünzt“ werden.

Die CENTER-TBI Studie wurde vor dem breiteren Hintergrund der International Initiative for Traumatic Brain Injury Research (InTBIR; https://intbir.nih.gov) als Europäischer Arm entwickelt. InTBIR ist ein seit 2011 aufgesetztes gemeinsames Rahmenprogramm der European Commission (EC), des Canadian Institutes of Health Research (CIHR) und des National Institutes of Health (NIH). Die Vernetzung mit zeitgleich durchgeführten Observationsstudien in den USA / Kanada, Australien / Neuseeland und China soll es zukünftig ermöglichen, präzisere Vorhersagen zu treffen, unter welchen Bedingungen welches SHT optimal behandelt werden kann.

Autor:

Prof. Dr. med. Oliver W. Sakowitz

Präsident der DGNI

Ärztlicher Direktor des Neurochirurgischen Zentrums

Ludwigsburg-Heilbronn, Klinikum Ludwigsburg

Posilipostr. 4, 71640 Ludwigsburg

Tel: 07141-99-67101

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Literatur

Steyerberg EW, Wiegers E, Sewalt C, Buki A, Citerio G, De Keyser V, u. a. Case-mix, care pathways, and outcomes in patients with traumatic brain injury in CENTER-TBI: a European prospective, multicentre, longitudinal, cohort study. Lancet Neurol. Oktober 2019;18(10):923–34.

Maas AIR, Menon DK, Adelson PD, Andelic N, Bell MJ, Belli A, u. a. Traumatic brain injury: integrated approaches to improve prevention, clinical care, and research. Lancet Neurol. 2017;16(12):987–1048.

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