Rabinstein AA, Atkinson JL, Wijdicks EFM
In: Neurology 2002; 58:1367-1372


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 2-2003


Bewertung: **





Zielstellung:

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem häufig kontrovers diskutierten Thema, ob und v.a. wann Patienten mit intrazerebralem Hämatom operiert werden sollen. In einer Subgruppe von Patienten, die sich nach primärem Blutungsereignis sekundär verschlechtern und bereits klinische und/oder radiologische Zeichen der Einklemmung aufweisen, wird das klinische Outcome (GOS) analysiert.

Design:

In einer retrospektiven Studie über einen sehr langen Zeitraum von 14 Jahren werden lediglich 26 Patienten mit einer nichttraumatischen supratentoriellen Blutung rekrutiert. Das kleine Patientengut ist äußerst inhomogen. 10 Patienten wiesen eine spontane, wahrscheinlich hypertensiv bedingte Blutung auf, sechs Patienten zeigten eine Koagulopathie bei systemischer Grunderkrankung, 4 eine antikoagulanzienbedingte Koagulopathie und 3 Patienten eine Blutung bei zugrunde liegender Gefäßmalformation (2x Aneurysma, 1x AVM), bei 3 Patienten wird keine Blutungsursache angegeben. Die Patienten entwickelten in unterschiedlichen Zeitabständen zum Primärereignis eine sekundäre klinische Verschlechterung mit klinischen Zeichen der Einklemmung (uni- oder bilaterale Störung der Pupillomotorik, Erlöschen der oberen Hirnstammreflexe und Strecksynergismen und/oder radiologische Zeichen der transfalcinen oder uncalen Herniation. Alle Patienten wurden notfallmäßig operiert und das Outcome analysiert.

Resultate:

Das Outcome der Patienten wurde im Mittel nach 15 Monaten evaluiert, wobei ein gutes Outcome (GOS 4 oder 5) bei 6 Patienten erzielt wurde während 20 Patienten ein schlechtes Outcome (GOS 1-3; n=14 mit GOS 1 = Tod) aufwiesen. Trotz der geringen Patientenzahl wurde eine statistische Analyse vorgenommen, die lediglich einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Outcomegruppen feststellte. Der Ausfall der Hirnstammreflexe führte signifikant (p=0.01) häufiger zu einem schlechten Outcome. Ansonsten waren lediglich Trends festzustellen, z.B. wenig verwunderlich, dass die Patienten mit Gefäßmalformationen eher ein schlechtes Outcome nahmen. Klar nehmen die Autoren Stellung und definieren einen „Point of no return“, d.h. alle komatösen Patienten mit Ausfall der oberen Hirnstammreflexe und Strecksynergismen verstarben. Hier wird deutlich, dass in diesem Stadium, heroische Operationsversuche zwecklos sind.

Schlussfolgerungen:

Lediglich ein Viertel der Patienten werden postoperativ im weiteren Verlauf ein unabhängiges Leben führen können. Die beste Prognose scheinen Patienten mit antikoagulanzienbedingter Blutung zu haben, da die Koagulopathie ebenfalls rasch (präoperativ) korrigiert wurde. Weisen die Patienten allerdings eine Einklemmung des oberen Hirnstamms auf, ist die Prognose hinsichtlich eines funktionell akzeptablen Outcomes immer schlecht, die Hälfte dieser Patienten versterben trotz Notfallkraniotomie.

Kommentar:

Die Therapie der intrazerebralen Blutung wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. In einem relativ aktuellem Cochrane Review werden lediglich 4 randomisierte Studien identifiziert, die einen konservativen mit einem operativen (Kraniotomie oder endoskopische Evakuation) Therapiearm verglichen. Diese Übersicht konnte keinen eindeutigen Vorteil der operativen Behandlung beobachten. In der klinischen Praxis wird man jedoch immer wieder mit Patienten und ihren Angehörigen konfrontiert, die bei einer klinischen Verschlechterung unter der bestehenden Therapie auf eine operative Intervention  drängen. Die Stärke dieser Arbeit ist es, diese besondere Subgruppe einmal näher analysiert zu haben. Leider besteht eine Reihe von methodischen Mängeln. Es handelt sich um eine retrospektive Studie über einen äußerst langen Zeitraum (von der Frühzeit des CT´s bis in die 90er Jahre) mit der Rekrutierung einer kleinen inhomogenen Patientengruppe, die statistische Aussagen unmöglich macht. Ein Bias kann bei der Patientenselektion  nicht ausgeschlossen werden. Die Evaluation mit Hilfe der GOS ist relativ grob, hier wäre die Nutzung des Barthel Indexes oder der WHO Handicap Scale o.a. Skalen sicher aussagekräftiger. Das Kriterium der klinischen Verschlechterung ist nicht eindeutig definiert (z.B. 2 Grade der GCS o.ä.). Über die Operationstechnik wird nichts berichtet. So konnten beispielsweise Maira et al. 2002 zeigen, dass bei Einklemmungssymptomen eine Entlastungskraniektomie zu einem besseren Outcome führt als die alleinige Hämatomevakuation. Nur bei einem Teil der Patienten wurden postoperative CT´s durchgeführt, um einen Rückgang der radiologischen Herniationszeichen zu dokumentieren, obwohl dieser bekanntermaßen nicht mit dem Outcome korreliert, wie andere Studien nachwiesen. Ob die Qualität der CT´s Mitte der 70er Jahre ausreichte, um Herniationszeichen im Bereich der suprasellären oder perimesenzephalen Zisternen aufzuzeigen, muss bezweifelt werden. Entsprechend finden die Autoren auch keine Prädiktionskriterien im präoperativen CT, obwohl neuere Studie eindeutig die transtentorielle Herniation mit der Mortalität und die uncale Herniation mit einem schlechten Outcome korrelieren können (Ziai et al, 2003). Die transfalcine Herniation dagegen scheint keinen Einfluss auf das Outcome zu haben.
Dem Ergebnis der Studie, dass Patienten mit 1. beidseitigen reaktionslosen weiten Pupillen,
2. mit erloschenem Kornealreflex, 3. erloschenem okulozephalen Reflex immer zu einem schlechten Outcome (GOS 1-3) führen, wird heute in der Praxis eigentlich aller neurologisch, neurochirurgischen Kliniken oder Intensivstationen Rechnung getragen, indem keine Operationsindikation mehr gestellt wird.

(V. Tronnier)