Rundshagen I, Schnabel K, Wegner C, Schulte am Esch J
In: Intensive Care Med 2002; 28:38-43


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 2-2003


Bewertung: *





Zielstellung:

Feststellung der Inzidenz von Erinnerungen und Träumen während Analgosedierung bei kritisch Kranken.

Studiendesign:

289 Patienten wurden mit einem strukturierten Interview (7 Fragen, im Falle einer Erinnerung 10 weitere) zwei bis drei Tage nach Verlassen einer operativen Intensivstation nach ihren Erinnerungen an diese Zeit befragt. Einschlusskriterium waren Beatmung oder Sedierung. Das operative Patientenkollektiv war sehr unterschiedlich krank (SAPS median 26 mit Spannbreite 6-58), blieb 1 Tag auf ICU (0,6-97), war 0,13 Tage (0-79) sediert und 0,3 Tage (0,3-85) beatmet. Verschiedene Sedativa/Hypnotika/Opioid/Clonidin-Kombinationen wurden verabreicht. Von den Patienten, die kürzer als einen Tag auf der Intensivstation waren (n=167, d.h. über die Hälfte der Untersuchten), erhielt die Hälfte keine Analgosedierung. Für die Auswertung wurden drei Gruppen gebildet: keinerlei Erinnerung, Traumerinnerung und Erinnerung ohne Träume.

Wichtige Resultate:

Zwei Drittel hatten keinerlei Erinnerung für die Zeit auf ICU. Das übrige Drittel hatte etwa zur Hälfte eine Erinnerung an Tubus oder Beatmung oder Extubation. Etwa 20% hatten eine Erinnerung an Träume, die knappe Hälfte davon „Alpträume“. Von der Gesamtkohorte erinnerten 7% Halluzinationen, die Hälfte davon wahnhaftangsterzeugende, die andere Hälfte angenehme. Jüngeres Alter disponierte eher zu Erinnerungen, während längere Verweildauer auf ICU und längere Beatmung und Sedierung eher zu Traumerinnerung führte. Die 187 Patienten ohne Erinnerung waren median 0,02 Tage analgosediert (=28 Minuten) und median 0,25 Tage beatmet. Die 53 Patienten mit Träumen dagegen waren median 2 Tage (0,185) beatmet, vier Tage sediert (079) und blieben 7 Tage (197) auf  ICU.

Schlussfolgerungen:

Intensivpatienten haben vor Eintreten von Wachheit häufig eine Erinnerung an Unangenehmes. Vorgeschlagen werden weitere Untersuchungen, ob diese Ergebnisse die Prognose beeinflussen und ob neurophysiologisches Monitoring die Zeitpunkte von Wahrnehmung/Träumen aufdecken kann, damit man das zukünftig verhüte.

Kommentar:

Der Titel ist elektrisierend für jeden, der seinen Intensivpatienten unangenehme Erinnerungen ersparen möchte. Diese Hoffnung wird vollständig enttäuscht. Die Studie ist insgesamt ungeeignet für einen  Erkenntnisgewinn. Die Diskussion begnügt sich denn auch mit der Rezitierung von Literatur und einigen nicht durch die Arbeit gestützten Spekulationen.

Auch die große Fallzahl hilft nicht über die gravierenden Mängel hinweg. Das Fehlen jeder Definition von Wachheit, Wachwahrnehmung, Halluzination und Träumen ist nicht verstehbar und macht die Ergebnisse bereits im Ansatz unsicher. Mindestens bedauerlich ist auch die fehlende Angabe über Zeitpunkt und Dauer von Erinnerungswahrnehmung, Identifikation von flashbacks etc.

Das Patientenkollektiv ist inhomogen und entspricht nicht dem Titel. Es handelt sich überwiegend um Patienten, die postoperativ nur kurz nachbeatmet wurden. Ob eine halbe Stunde Sedativagabe in unbekannter Dosis nach einer ungewissen OP Dauer bei ungewisser Krankheit mit ungewisser Narkoseart von Bedeutung ist, muss bezweifelt werden. Etwa ein Viertel der Gesamtkohorte bekam gar keine Analgosedierung. Mehr als die Hälfte der Patienten war am ersten postoperativen Tag wieder auf Normalstation. Das ist also eine große Gruppe von Aufwachpatienten nach Narkose, die aus unbekanntem Grund erst auf der Intensivstation extubiert wurden. Die andere, genauso ungenügend beschriebene Gruppe verweilte länger, mit einer gigantischen Spannbreite. Warum diese in geringerem Prozentsatz Wacherinnerungen hatten, leuchtet nicht ein und wird nicht adäquat diskutiert.

Der zweite methodische Mangel liegt in der fehlenden Kontrolle der Antworten auf das Interview. Subjektives Berichten unterliegt bekanntermaßen Suggestibilität und Persönlichkeitsfaktoren. Eine mögliche Kontrolle z.B. auf Scheinerinnerungen wurde nicht vorgenommen. Die zeitliche Zuordnung einer Traumerinnerung unterliegt ohnehin einem gravierenden Kontaminationsartefakt. Warum nur Erinnerung an Tubus und Beatmung erfragt wurde, und keine andersartige, die z.B. etwas über Wahrnehmungstiefe und -anstöße hätte aussagen können, ist nicht verstehbar. Damit verwischen sich die undefinierten Zielkriterien der Untersuchung mit möglicher nachträglicher Phantasieleistung. Die mit dieser Methodik erreichten Inzidenzangaben sind auch daher als vollständig ungeprüft anzusehen.

Bedauerlicherweise ist nicht einmal kurzfristig die Bedeutung der wahrgenommenen oder geträumten Inhalte evaluiert worden. Es ist bekannt und nachvollziehbar, dass Extubation bei voller Wachheit unangenehm ist. Was aber macht ein Mensch aus dieser Erfahrung? Auch wenn kasuistisch von einer chronischen posttraumatischen Belastungsreaktion berichtet wurde, wird Extubation in der Regel psychisch folgenlos als notwendiges Übel akzeptiert. Es gibt hier noch nicht einmal eine Angabe dazu, ob die Wahrnehmung von Beatmung positiv oder negativ bewertet wurde. Offensichtlich ist es für die Autoren etwas grundsätzlich Negatives, aber dieses Auffassung wird von der Literatur nicht so pauschal gestützt und widerspricht auch allen Versuchen, mit unterstützender Beatmung Dyspnoe und die dadurch verursachte Angst zu lindern. Es wäre lohnenswert gewesen zu erfahren, mit welcher Medikation sich eine ungute Erinnerung an Extubation vermeiden lässt (der Datensatz war dazu vorhanden).

Die Autoren unterliegen einem Irrtum mit der Auffassung, dass bei Intensivpatienten Erinnerung an Träume grundsätzlich zu verhüten sei. Die Hälfte ihrer Träumer hat etwas Schönes geträumt. Trivial ist, dass die Wahrscheinlichkeit zu träumen zunimmt mit der Verweildauer, insbesondere wenn diese länger ist als Beatmung und Sedierung. Schlafbiologisch und psychologisch ist Träumen zunächst einmal gesund und auch notwendig. Weiterführend wäre hier die Frage nach Medikation und Faktoren des Hintergrundrauschens auf Intensivstation gewesen, das eher gute oder eher böse (erinnerte) Träume verursacht.

Die letzten Folgerungen der Autoren aus ihren Ergebnissen sind nur nachvollziehbar unter der Vorstellung der Autoren, dass jede Patienten-Erinnerung an und Wahrnehmung von Intensivstation zu eliminieren sei. Diesem „anästhesiologischen“ Standpunkt kann m.E. allenfalls zugestimmt werden für die Subgruppe der Patienten mit kurz verzögerter postoperativer Extubation. Dies sollte dann aber eher dem Thema Narkoseausleitung als der Intensivtherapie zugeordnet werden. Für einige andere, längerverweilende Gruppen von Intensivpatienten wurde unter verschiedenen Bedingungen bereits gezeigt, dass der bessere Weg zur Bewältigung von unvermeidbaren ICU-Stressoren eine intensivierte Kommunikation (zusätzlich zu ggf. notwendiger Basis-Analgosedierung) und evtl. auch Verbesserungen der Umgebungsbedingungen ist, und gerade nicht das Eliminieren von Hirnaktivität.

(W. Müllges)