Pranevicius M, Pranevicius O
In: Neurosurgery 2002; 51(5):1267-72


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 2-2003


Bewertung: ****





Zielstellung:

Das Starling-Widerstands-Modell beschreibt den Blutfluss in Gebieten mit erhöhtem Druck im Hirngewebe. Das Model beschreibt Druck-Fluss-Relationen in einem kollabierbarem Röhrensystem wie dem venösen Gefäßsystem. Das Model kann herangezogen werden, um die zerebral venöse Zirkulation zu beschreiben. Der Blutfluss determiniert sich aus der Beziehung zwischen dem Druck im Zuflussschenkel, dem Druck in der Umgebung und dem Druck im Abflussschenkel. Diese Beziehungen sind unter dem Begriff „West zones“ definiert. Fokale Hirnläsionen erzeugen einen Druckgradienten im Hirnparenchym mit einem Druckabfall vom Zentrum hin zur Peripherie. Dies bewirkt das gleichzeitige Vorliegen von Zonen mit unterschiedlichen Druck- und Blutflussverhältnissen. Die Koexistenz dieser verschiedenen Zonen kann zur Umverteilung des Blutflusses entsprechend den Wegen des geringsten Widerstandes führen. Die Autoren postulieren, dass lokalisierte Druckanstiege im Hirngewebe den regionalen Blutfluss nicht nur durch den verminderten fokalen Perfusionsdruck, sondern auch durch die Umverteilung des Blutflusses im Sinne eines Steal-Effektes reduzieren. Dieser Effekt wird zerebral venöser Steal genannt. Es wird untersucht, ob durch einen erhöhten venösen Druck diese Umverteilung des Blutflusses verhindert werden und kollabierte Gefäßsegmente  im venösen System wiedereröffnet und rekrutiert werden können.

Methode:

Die Simulationen erfolgen an einem Modell mit zwei parallel geschalteten Starling-Widerständen und gemeinsamen Einflussschenkel. Der erste Widerstand entspricht einem Gebiet mit erhöhtem Gewebedruck, während der zweite Widerstand das umgebende Areal mit einem Gewebedruck von null repräsentiert. Die Auswirkungen des Venendruckes auf die Flussverteilung zwischen den beiden Starling-Widerständen werden untersucht.

Wichtige Resultate:

Die Modelsimulationen zeigen eine Flussumverteilung vom ersten Starling-Widerstand mit erhöhtem Gewebedruck zugunsten des zweiten Starling-Widerstandes mit tieferem Gewebedruck. Ein erhöhter Widerstand im Zuflussschenkel verstärkt diesen Steal-Mechanismus. Eine Erhöhung des Druckes im Abflussschenkel (venöser Druck) verringert die Flussumverteilung. Wenn der venöse Druck dem Gewebedruck entspricht, wird die Flussumverteilung (zerebral venöser Steal-Effekt) verhindert. Trotz einer Verringerung der globalen Perfusion kann eine Erhöhung des venösen Druckes den regionalen Fluss in Arealen mit erhöhtem Gewebedruck um mehr als 50% des Ausgangswertes verbessern.

Schlussfolgerung:

Der zerebral venöse Steal-Effekt führt zu einer Blutflussumverteilung vom Zentrum zur Peripherie einer Hirnläsion. Dieser Mechanismus könnte sekundäre Hirnschädigungen bei regionalen Druckerhöhungen im Hirnparenchym verursachen. Die Blutflussumverteilung kann durch eine Erhöhung des venösen Druckes vermindert werden. Zusätzlich könnte eine Erhöhung des Venendruckes eine Rekrutierung kollabierter Segmente im venösen Gefäßnetz bewirken.

Kommentar:

Das angewandte Model allein kann der Komplexizität des zerebralen Gefäßnetzes nicht gerecht werden. Experimentelle physikalische Methoden fördern aber das Verständnis grundlegender biologischer Vorgänge und können zu neuen pathophysiologischen Erkenntnissen führen. Die Hypothese eines möglichen zerebral venösen Steal-Effektes ist innovativ und von großem klinischem Interesse. Die im Klinikalltag eingesetzten Messmethoden zur Überwachung des globalen intrakraniellen Druckes (ICP) verführen dazu, die Bedeutung regionaler Druckunterschiede im Hirnparenchym zu unterschätzen. Die Simulationen an einem einfachen physikalischen Modell weisen auf potentielle Therapieansätze zur Vermeidung sekundärer Hirnschädigungen bei intrazerebralen Druckgradienten hin. Vor einer direkten klinischen Umsetzung des vorgeschlagenen Therapieansatzes einer Anhebung des Venendruckes wird allerdings gewarnt. Nebenwirkungen im Sinne einer Verschlechterung des venösen Ruckflusses, Verringerung der globalen Perfusion, Störungen der Blut-Hirn-Schranke und einer Zunahme des Hirnödems sind möglich. Die vorliegende grundlagenwissenschaftliche Arbeit sollte zu weiteren tierexperimentellen und klinischen Untersuchungen in Zusammenhang mit intrazerebralen Druckdifferenzen anregen.

(E. Keller)