Herrmann M, Curio N, Jost S, Grubich C, Ebert AD, Fork ML, Synowitz H
In: J Neurol Neurosurg Psychiatry 2001; 70:95-100


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 1-2002


Bewertung: ***





 

Hintergrund:

Neurochemische Serummarker sind in der Vergangenheit bei der Einschätzung des Schweregrades von ZNS-Läsionen und als mögliche Prädiktoren des klinischen Verlaufs bei Schlaganfall, hypoxischer Hirnschädigung nach Herz-Kreislauf-Stillstand und Schädel-Hirn-Trauma in zahlreichen experimentellen und klinischen Studien untersucht worden. Letztere konzentrierten sich aus Gründen der Verfügbarkeit kommerzieller Enzym- und Radioimmuno-Assays für die Laborroutine im wesentlichen auf die Neuronenspezifische Enolase (NSE) und das astrozytäre S-100 B-Protein.  In der vorliegenden Arbeit wurde der Zusammenhang zwischen der Serumkinetik beider Proteine in der Akutphase und dem kurz- und langfristigen neuropsychologischen Outcome nach Schädel-Hirn-Trauma systematisch untersucht. Besonderes Augenmerk wurde auf den Vorhersagewert von NSE und S-100 B-Protein für fokale neurologische Störungen, Ausmaß der strukturellen Schädigung im CCT und neuropsychologisches Outcome gerichtet.

Design:

Während eines Zeitraums von 18 Monaten wurden konsekutiv 69 Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma (Glasgow Coma Scale ? 8: n=31; GCS ? 13: n=32) eingeschlossen, die folgende Studienkriterien erfüllten: Alter 16 bis 65 Jahre, keine neurologische oder psychiatrische Anamnese, keine Suchterkrankung, Blutabnahmen nach Schema, Einverständniserklärung zur Teilnahme an der Studie. Die klinische Beurteilung nach GCS bzw. eine standardisierte neurologische Untersuchung erfolgten bei Aufnahme, an Tag 3 bzw. 4 sowie an Tag 10 bzw. 14 nach SHT. Die bei Aufnahme und im Verlauf durchgeführten CCT wurden qualitativ und quantitativ ausgewertet (Morphometrie mit NIH Image Analysis). Gemäß den TCDB-Klassifikationskriterien wurden eine diffuse Schädigung Grad I bei 36, eine diffuse Schädigung Grad II bei 17 und eine diffuse Schädigung Grad IV bei 6 Patienten gefunden. Zehn Patienten wiesen eine nicht entlastete raumfordernde Massenläsion auf. Die Bestimmung der Serumkonzentrationen von NSE und S-100 B-Protein erfolgte an den ersten drei Behandlungstagen nach SHT mittels immunoluminometrischer Assays (LIA).
Von den 69 eingeschlossenen Patienten konnten 39 nach zwei Wochen und von diesen wiederum 29 erneut nach sechs Monaten neuropsychologisch untersucht werden. Die Testbatterie setzte sich zusammen aus Neurobehavioural Rating Scale, Mini Mental State Examination, Frontal Lobe Score sowie Testverfahren für die kognitiven Bereiche Gedächtnis, Lernen, Sprache, Exekutivfunktionen, Aufmerksamkeit und Psychomotorik. In der Gruppe der neuropsychologisch getesteten Patienten lag der Median der initial erhobenen GCS-Scores bei 15 (leichtes SHT).

Wichtige Resultate:

Die Serumkonzentrationen von NSE und S 100 B-Protein zeigten für sämtliche Abnahmezeitpunkte eine hoch signifikante Übereinstimmung und korrelierten hoch signifikant mit dem GCS Score. Darüber hinaus wiesen Patienten mit pathologischen CCT-Befunden signifikant höhere S100 B-Proteinwerte auf, während kein Zusammenhang zwischen den beiden untersuchten Proteinen und dem Vorhandensein fokaler neurologischer Defizite festgestellt werden konnte. Zwei Wochen nach SHT zeigten 74% der Patienten kognitive Einbußen vorwiegend in den Bereichen Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen und Gedächtnis. Bei der Reevaluation sechs Monate später fand sich eine signifikante Verbesserung der Testergebnisse, jedoch waren 69% der Patienten weiterhin kognitiv eingeschränkt. Für beide Untersuchungszeitpunkte galt, dass bei Patienten mit neuropsychologischen Defiziten signifikant ausgeprägtere Erhöhungen des S 100 B-Proteins im Akutverlauf bestanden hatten als bei Patienten ohne neuropsychologische Auffälligkeiten. Der positive Vorhersagewert von S 100 B-Protein-Werten >140 ng/l  für die Persistenz neuropsychologischer Einbußen zwei Wochen nach SHT lag bei 6,9 (Sensitivität 69%, Spezifität 90%) bzw. sechs Monate nach SHT bei 5,9 (Sensitivität 65%, Spezifität 89%). Für die NSE-Serumkonzentrationen konnten zwischen beiden Patientengruppen keine signifikanten Unterschiede gefunden werden.

Schlussfolgerung:

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass sowohl NSE als auch S100 B-Protein geeignete biochemische Marker des Schweregrades der traumatischen Hirnschädigung darstellen. Die während der ersten drei Tage nach SHT ermittelten S100 B-Protein-Werte haben sich als zuverlässiger Prädiktor von persistierenden neuropsychologischen Defiziten im kurz- und langfristigen Verlauf nach SHT erwiesen.

Kommentar:

Die vorliegende Arbeit schließt an zahlreiche Untersuchungen zur Bedeutung des neuronalen Markers NSE und des astrozytären S100 B-Protein im Serum von Patienten nach traumatischer Hirnschädigung an und bestätigt die Befunde anderer Arbeitsgruppen insofern, als dass auch eine gute Korrelation zwischen Schweregrad des SHT (GCS) und Serumkonzentrationen beider Proteine in der Akutphase gefunden werden konnte. Der Schwerpunkt der Studie wurde auf den prognostisch relevanten Zusammenhang zwischen initialen Serumkonzentrationen beider Proteine und dem neuropsychologischen Outcome nach zwei Wochen bzw. sechs Monaten gelegt. Als klares Ergebnis dieser Arbeit darf der hohe positive Vorhersagewert von S100 B-ProteinWerten  >140 ng/l  hinsichtlich der Persistenz neu-ropsychologischer Einbußen im Verlauf nach SHT gewertet werden. Die daraus resultierenden Implikationen für die klinische Praxis bleiben jedoch zweifelhaft, da nur Patienten mit leichtem SHT (initialer GCS 15) neuropsychologisch untersucht wurden, während schwerer betroffene Patienten (GCS ? 8), bei denen in der Akutphase viel weitreichendere therapeutische Entscheidungen zu treffen sind, frühzeitig aus dem Studienprotokoll ausgeschlossen werden mussten. Insofern ist die vorliegende Untersuchung in ihrer Aussage auf ein Kollektiv von 39 bzw. 29 Patienten mit leichtem SHT limitiert, das sich offensichtlich aus der Gruppe von Patienten mit unauffälligem CCT - 44% der nach 2 Wochen bzw. 45% der nach 6 Monaten Untersuchten - oder mit CT-morphologisch geringgradigen diffusen Läsionen (Grad I und II nach TCDB-Kriterien) rekrutiert. Eine detailliertere Zuordnung der neuro-psychologisch getesteten Patienten zu den ermittelten S100 B-Protein-Werten und dem differenzierten CCT-Befund bleibt die Arbeit schuldig. Von größerem Interesse wären ohnehin wesentlich aussagekräftigere MRT-Techniken gewesen, die innerhalb der Patienten mit uneingeschränktem GCS voraussichtlich eine Differenzierung in weitere Subgruppen erlaubt und somit möglicherweise einen zusätzlichen Prädiktor für das neuropsychologische Outcome dargestellt hätten.
Zusammengefasst liefert die Studie neben den in der Literatur bereits etablierten Daten zu Serum-NSE und -S100 B-Protein bei SHT vor allem den Beitrag, dass bei Patienten mit einem initialen GCS-Score von 15 und S100 B-Protein-Serumkonzentrationen über 140ng/l mit großer Wahrscheinlichkeit mit bis mindestens sechs Monate nach SHT persistierenden neuropsychologischen Einbußen gerechnet werden muss. Insgesamt ist daher der Wissenszuwachs durch die vorliegende, im Ansatz durchaus interessante und neuropsychologisch solide durchgeführte Untersuchung schließlich doch als begrenzt einzustufen.

(M. Horn)