Cucchiara B, Kasner SE, Wolk DA, Lyden PD, Knappertz VA, Ashwood T, Odergren T, Nordlund A
In: J Neurol Neurosurg Psychiatry 2003;74:889-892


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 3-2003


Bewertung: ***





Zielstellung:

Die Frage, ob der linken Hemisphäre eine größere Bedeutung im
Hinblick auf den Erhalt des Bewusstseins zukommt, ist in der Literatur umstritten. Im Rahmen der Studie sollte prospektiv die Bewusstseinslage bei Patienten mit großen Territorialinfarkten im vorderen Stromgebiet untersucht werden.

Design:

564 Patienten mit einem großen Territorialinfarkt im vorderen Stromgebiet mit Beeinträchtigung höherer kortikaler Funktionen, Gesichtsfeldeinschränkungen und Paresen aus dem Placebo-Arm einer prospektiven Neuroprotektiva-Studie (CLASS-I) wurden innerhalb von 12 Stunden nach Symptombeginn in die Studie eingeschlossen. Der Bewusstseinsgrad wurde anhand eines sog. „level of consciousness (LOC) Score“ mit einer Skalierung von 1 „vollkommen wach“) bis 6 („keine Reaktion auf Schmerzreiz“) prospektiv nach 15, 30 und 60 Minuten, sowie nach 3, 6, 8, 10, 12, 15, 18, 21 und 24 Stunden untersucht.

Wichtige Resultate:

261 Patienten hatten einen rechtshemisphäriellen (46%), 299 einen linkshemisphäriellen (53%) Insult. Keine Unterschiede bestanden bezüglich des Alters, der Geschlechterverteilung, der Häufigkeit früherer Ischämien (TIA oder stroke) sowie zerebrovaskulärer Risikofaktoren. 73% aller Patienten hatten zumindest vorübergehend eine Beeinträchtigung des Bewusstseins. NIHSS (18 vs. 16, p=0.02), Mortalität (22 vs. 14%, p=0.03) und Infarktvolumen (41 vs. 25cm 3, p<0.001) waren bei den Patienten mit Bewusstseinsstörung größer. Die „LOC scores“ waren bei links- und rechtshemisphäriellen Infarkten (Maximalwert, Werte aller Einzelzeitpunkte sowie deren Mittelwert) gleich (maximaler LOC score: 2 [p=0.91]; mittlerer LOC score: 1,5 [p=0.75]). Der NIHSS war bei den linkshemisphäriellen Insulten signifikant höher (19 vs. 15, p<0.0001), das Infarktvolumen vergleichbar (p=0.12). Auch nach multivariater Analyse unter Berücksichtigung des NIHSS und des Infarktvolumens fand sich kein signifikanter Unterschied im LOC score zwischen links- und rechtshemisphäriellen Infarkten.

Schlussfolgerung:

Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss, dass eine quantitative Bewusstseinsstörung nach großem Territorialinfarkt zwar häufig ist, die Seite des Infarktes dabei jedoch keine Rolle zu spielen scheint.  

Kommentar:

Stärken der Arbeit sind die hohe Anzahl der untersuchten Patienten mit vergleichbaren Zahlen für links- und rechtshemisphärielle Infarkte, der prospektive Charakter sowie die wiederholten Messungen in enger zeitlicher Folge, wodurch auch flüchtige Bewusstseinsstörungen eher erfasst werden können. Zudem wurde versucht anhand klinischer (NIHSS) und bildgebender Kriterien (Infarktvolumen im CT) eine weitestgehende Übereinstimmung zwischen beiden Gruppen zu erzielen. Ein Nachteil der Studie ist, dass Patienten, die initial bereits schläfrig oder noch stärker bewusstseinsgestört waren, ausgeschlossen wurden. Über etwaige Unterschiede bei Patienten mit deutlich
primärer Bewusstseinsstörung kann diese Studie keine Aussagen machen. Zudem geht die topographische Zuordnung der Ischämie nicht über die Angabe „vorderes Strombahngebiet“ hinaus. Hier wäre eine weitere Präzisierung wünschenswert gewesen, beispielsweise eine Unterscheidung kortikaler vs. subkortikaler und vorderer vs. hinterer Mediainfarkte und eine Differenzierung zwischen Media- und Anteriorinfarkten. Zu bemängeln ist, dass die Untersuchungen lediglich über 24 Stunden, d.h. bis maximal 36 Stunden nach Symptombeginn fortgeführt wurden. Gerade bei großen Territorialinfarkten mit raumfordernder Wirkung wird das Maximum der Bewusstseinsstörung erst nach einigen Tagen erreicht. Erstaunlich ist der hohe Prozentsatz einer Aphasie bei rechtshemisphäriellen (20%) und eines Neglects bei linkshemisphäriellen Infarkten (70%) im Untersuchungskollektiv. Hierfür können die Autoren keine schlüssige Erklärung bieten, vermuten allerdings diagnostische Einschränkungen, die sich aus dem Charakter des NIHSS ergeben. Insgesamt werden die Autoren mit ihrer Arbeit der vorgegebenen Zielstellung gerecht und liefern einen wichtigen Beitrag zur Klärung der Frage, ob zwischen dem Erhalt des Bewusstseins bei supratentoriellen Läsionen und der betroffenen Hemisphäre ein Zusammenhang besteht.

(J.M. Valdueza)