C Weimar, J Benemann, H-C Diener for the German Stroke Study Collaboration
In: Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry 2006; 77:601-605

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA 2 2007


Bewertung: ***





Zielstellung:

Erstellen einer einfach anwendbaren Skala ("Essen ICH score") zur prognostischen Abschätzung der Letalität bzw. eines günstigen funktionellen Behandlungsergebnisses nach akuter intracerebraler Blutung.

Design:

Die Arbeit fußt auf einer vorangegangen Publikation der Autoren (Weimar et al., J Neurol 2006), die bei 207 Patienten mit akuter intracerebraler Blutung (aICB) mittels logistischer Regressionsanalyse einen unabhängigen Zusammenhang zwischen dem funktionellen Behandlungsergebnis nach 100 Tagen, dem Patientenalter und dem innerhalb von 6 Stunden nach Symptombeginn erfasstem Punktwert der National Institute of Health Stroke Scale (NIH-SS) zeigte. Anhand einer multizentrisch rekrutierten Kohorte (Deutsche Schlaganfall-Datenbank) von 586 konsekutiven Patienten mit aICB ermittelten die Autoren nun retrospektiv die prognostische Wertigkeit einer als "Essen ICH score" (E-ICH-S) bezeichneten Skala für die Letalität oder ein günstiges funktionelles Behandlungsergebnis, definiert als Barthel-Index (BI) ≥ 95 Punkte nach 100 Tagen. Ausgewertet wurden letztlich 340 Patienten mit komplettem Datensatz, die innerhalb von 24 Sunden nach Symptombeginn stationär aufgenommen wurden und nicht primär einen neurochirurgischen Eingriff erhielten. Die Endpunkte (BI, Tod) wurde nach 100 Tagen anhand eines Telefoninterviews erfasst. Die Validierung erfolgte in einer Vergleichskohorte von 371 Patienten mit aICB. Die prädiktive Aussagekraft der E-ICH-S wurde in dieser Kohorte mit der von den betreuenden Ärzten bei Aufnahme abgegebenen Prognose, dem ICB Score (Hemphill et al., Stroke 2001) und dem modifizierten ICB Score (Cheung and Zou, Stroke 2003) verglichen.

Wichtige Resultate:

Die E-ICH-S setzt sich aus drei Subskalen zusammen, deren Addition die Gesamtpunktzahl (0-10 Punkte) ergibt. Neben dem Patientenalter (80 = 3) fand der NIH-SS Score (0-5 = 0; 6-10 = 1; 11-15 = 2; 16-20 = 3; >20 oder Koma = 4) und die Vigilanz bei Aufnahme (wach = 0; somnolent = 1; soporös = 2; komatös = 3) Berücksichtigung. In der Studienkohorte verstarben 37,1% der Patienten innerhalb des Beobachtungszeitraumes von 120 Tagen und 26,2% erzielten einen BI ≥ 95 Punkte nach 100 Tagen. In der Vergleichskohorte verstarben im gleichen Zeitraum 29,1% der Patienten und 32,9% erzielten ein gutes funktionelles Behandlungsergebnis. Der NIH-SS Score betrug in der Studien- bzw. Vergleichskohorte im Durchschnitt 15,3 bzw. 13,2 Punkte, 18,8% bzw. 15,6% aller Patienten waren bei Aufnahme komatös. Von den bei Studieneinschluss intubierten Patienten verstarben 79% und nur 4% erreichten ein gutes funktionelles Behandlungsergebnis. Bei einem E-ICH-S Wert von >7 Punkten ergab sich in puncto Sterbewahrscheinlichkeit in der Studiengruppe eine Sensitivität von 44.4%, eine Spezifität von 95.8%, ein positiver prädiktiver Wert (PPV) von 86.2% und ein negativer prädiktiver Wert (NPV) von 74.5%. Ein E-ICH-S Wert von < 3 Punkten war in der Studiengruppe mit einer Sensitivität von 85.4%, einer Spezifität von 86.5%, einem PPV von 69.1% und einem NPV von 94.3% mit einem guten funktionellen Behandlungsergebnis assoziiert. Für die gewählten Cut-off Werte ergab sich in der Vergleichskohorte eine Sensitivität von 43,9% für die Mortalität bzw. 73,8% für einen BI ≥ 95 Punkte nach 100 Tagen. Die von den betreuenden Ärzten der Vergleichskohorte bei Aufnahme abgegebene Prognose erreichte in puncto Sterbewahrscheinlichkeit eine ähnliche Sensitivität (41,2%), war jedoch bezüglich des guten funktionellen Behandlungsergebnisses mit 37,8% deutlich niedriger. Der Vergleich mit dem ICB Score und modifizierten ICB Score ergab in puncto Sterbewahrscheinlichkeit für diese Skalen eine höhere Sensitivität (58,5% bzw. 64,3%) bei etwas schlechter Spezifität (93,1% bzw. 85,8%).

Schlussfolgerung:

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die E-ICH-S eine einfach anzuwendende Skala zur Prädiktion des Behandlungsergebnisses nach aICB ist und insbesondere für die Durchführung von Studien von Bedeutung sein könnte.

Kommentar:

Die bisher publizierten Prognosemodelle nach aICB sind vielzählig, aber -- abgesehen vom ICB Score -- ohne klinische Bedeutung (Ariesen et al., JNNP 2005). Im Gegensatz zu allen bekannten Prognosemodellen beruht die E-ICB-S ausschließlich auf klinischen Daten (Patientenalter, NIH-SS, Vigilanz bei Aufnahme), deren Zusammenhang mit dem Behandlungsergebnis nach aICB bereits mehrfach publiziert wurde (u. a. Cheung and Zou, Stroke 2003). Der die Anwendung der Skala vereinfachende Verzicht auf radiologische Daten überrascht jedoch, da eine Korrelation der Prognose mit dem Volumen und der Lokalisation der aICB wiederholt gezeigt wurde (u. a. Hemphill et al., Stroke 2001; Cheung and Zou, Stroke 2003) und konsekutiv Eingang in alle bekannten Prognoseskalen fand (Ariesen et al., JNNP 2005). Leider erfährt man in der vorliegenden Arbeit nicht wie viele Patienten der Studienkohorte einen Ventrikeleinbruch oder eine begleitende Subarachnoidalblutung erlitten. Das im Vergleich zur Planungsstudie (Weimar et al., J Neurol 2006) deutlich erweiterte Einschlusszeitfenster von 24 Stunden ermöglicht zwar eine breitere Anwendbarkeit der E-ICB-S, lässt aber deren Validität unsicherer erscheinen, da bei vielen aICB-Patienten in den ersten 24 Stunden eine sekundäre Verschlechterung anzunehmen ist. Anhand der E-ICB-S erscheint eine differenzierte Beurteilung intubierter Patienten nahezu unmöglich, da sich allein aus der -- möglicherweise medikamentös bedingten -- Vigilanzstörung 7 von 10 möglichen E-ICB-S Punkten ergeben. In dieser Hinsicht ist interessant, dass die Planungsstudie (Weimar et al., J Neurol 2006) keine intubierten oder komatösen aICB-Patienten einschloss. Überzeugend ist hingegen die Validierung des Modells in der Vergleichskohorte. Für die bisherigen Prognosemodelle ist dies -- allerdings in deutlich geringerem Umfang -- nur für den ICH Score (Cheung and Zou, Stroke 2003) erfolgt. Aufgrund der hohen Spezifität und des hohen PPV ist die Aussagekraft der E-ICH-S in puncto Mortalität durchaus mit dem (modifizierten) ICB Score vergleichbar. Das die anhand der Vergleichskohorte ermittelte Sensitivitäten des (modifizierten) ICB Score weit unter denen der Orginalpublikation lagen (78,6% bzw. 92%; Cheung and Zou, Stroke 2003), ist wahrscheinlich auf die in der vorliegenden Arbeit nicht erfolgte volumetrische Erfassung der Blutungsgröße zurückzuführen, was indirekt die Praktikabilität der E-ICH-S unterstreicht. Da im (modifizierten) ICB Score die modifizierte Rankin Skala (mRS) nach einem Monat als Endpunkt erfasst wurde und diese Daten für die Studien- und Vergleichskohorte nicht vorlagen, war kein valider Vergleich der Skalen zur Prädiktion des funktionellen Behandlungsergebnis möglich. Die validierte Erfassung des BI anhand eines Telefoninterviews (Heuschmann et al., Fortschr Neurol Psychiatr 2005) bildet das funktionelle Behandlungsergebnis jedoch sicher besser ab, als die mRS. Die in puncto Sterbewahrscheinlichkeit gleiche prädiktive Aussagekraft der E-ICB-S und der in der Akutsituation behandelnden Ärzte überrascht aufgrund der wenigen in die E-ICB-S einfließenden klinischen Basisparameter nicht. Bleibt zu hoffen, dass die von den Ärzten unterschätzte Rehabilitationsfähigkeit nicht mit einem therapeutischen Nihilismus gepaart ist. Aufgrund ihrer prognostischen Aussagekraft erscheint die E-ICH-S somit für eine Patientenselektion im Rahmen von Studien geeignet, die in erster Linie auf eine Verbesserung des funktionellen Behandlungsergebnisses ausgerichtet sind. Die Aussagekraft der E-ICB-S bleibt im klinischen Alltag gewissen Einschränkungen unterworfen, da die erfolgte Patientenselektion und die fehlenden Angaben zu den letztendlich neurochirurgisch behandelten Patienten die Allgemeingültigkeit der E-ICH-S in Frage stellen. Die Validierung in einem nicht selektierten Kollektiv von Patienten mit aICB steht daher aus, auch wenn gemäß STICH (Mendelow et al., Lancet 2005) ein vergleichbares funktionelles Behandlungsergebnis nach operativer und konservativer Therapie zu erwarten ist.
Zusammenfassend leistet diese Arbeit einen hilfreichen Beitrag zur Prognoseabschätzung nach aICB, enthält jedoch einen nur begrenzten Neuheitswert.


(K. G. Häusler)