Ziai and Lewin
In: Crit Care Clin 22 (2007) 661-694

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA 08


Bewertung: **





Zielstellung:

Die Arbeit beschäftigt sich mit wichtigen ZNS-Infektionen auf der neurologischen Intensivstation: bakterielle Meningitis, Enzephalitis, Hirnabszess und epiduraler Abszess, subdurales Empyem und Ventrikulitis. Ziel der Arbeit ist eine Zusammenstellung aktueller Aspekte in der Diagnostik (z.B. Bedeutung von Entzündungsmarkern, Liquorparametern und bildgebenden Verfahren) und Therapie (z.B. Entwicklung neuer antibiotischer Substanzen, adjuvanter Therapiestrategien) der genannten ZNS-Infektionen.

Design:

Übersichtsarbeit

Wichtige Resultate:

In einem pathophysiologischen Abschnitt werden einige seit langem bekannte inflammatorische Mediatoren (z.B. Zytokine, Chemokine, Adhäsionsmoleküle) bei der bakteriellen Meningitis aufgezählt; auf die Pathophysiologie der anderen ZNS-Infektionen wird nicht eingegangen. Es folgt die Beschreibung der klinischen Symptomatik bei den oben genannten Krankheitsbildern. Die Autoren weisen darauf hin, dass bei der akuten bakteriellen Meningitis die klassische Trias Fieber, Meningismus und Bewusstseinsstörung nicht vorliegen muss; in einer kürzlich publizierten Studie fanden sich alle 3 Charakteristika nur bei 44% von 696 Krankheitsfällen einer bakteriellen Meningitis im Erwachsenenalter (van de Beek et al., N Engl J Med 2004; 351: 1849-59). Ferner wird auf die möglichen Prädiktoren für einen ungünstigen Krankheitsverlauf der bakteriellen Meningitis hingewiesen (z.B. niedriger Punktwert in der Glasgow-Coma-Skala, niedrige Leukozytenzahl im Liquor, höheres Lebensalter). Es folgt die Beschreibung einiger wesentlicher klinischer Symptome viraler Enzephalitiden (z.B. verursacht durch Mumps-Virus, HSV, CMV, VZV, Enteroviren); eine detaillierte Beschreibung der Symptomatik erfolgt für die Westnil-Virus-Enzephalitis (z.B. Parkinsonsymptome, Myoklonien, Poliomyelitis-ähnliche Symptomatik, Chorioretinitis).
Es werden Methoden genannt, die in der Diagnostik von ZNS-Infektionen relevant sind, z.B. CRP und Procalcitonin im Serum bei bakteriellen Infektionen; wichtig ist insbesondere, dass ein normales CRP mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gegen das Vorliegen einer bakteriellen Meningitis spricht. Die Autoren betonen die Bedeutung der PCR-Diagnostik im Liquor bei viralen Erkrankungen. Es wird darauf hingewiesen, dass bei schwer bewusstseinsgestörten Patienten und Patienten mit fokalneurologischem Defizit, bei denen der dringende Verdacht auf eine bakterielle Meningitis besteht, bereits unmittelbar nach der Blutentnahme (für das Anlegen einer Blutkultur) mit der Antibiotika-Therapie begonnen werden sollte, um keine Therapieverzögerung durch das Warten auf das Schädel-CT zu riskieren. Ferner betonen die Autoren, dass bei Patienten mit bakterieller Meningitis, die sich unter Therapie klinisch bessern, eine erneute routinemäßige Liquorpunktion im Verlauf nicht indiziert ist.
Im Abschnitt zur Bedeutung bildgebender Verfahren bei ZNS-Infektionen werden CT-und MRT-Charakteristika aufgezählt. Im nächsten Abschnitt "Antibiotikatherapie" wird zunächst auf die Charakteristika der liquorgängigen Antibiotika (z.B. lipophile Substanz, geringe Eiweißbindung) eingegangen. Dann wird die Wahl der Antibiotika besprochen, z.B. in Abhängigkeit von den zu erwartenden wahrscheinlichsten Erregern, vom Patientenalter, dem Immunstatus, dem Vorliegen einer ambulant-erworbenen oder nosokomialen Infektion). Schließlich wird im Abschnitt "Therapeutische Kontroversen" die Wirksamkeit einer Cortisontherapie bei der bakteriellen und tuberkulösen Meningitis diskutiert.

Schlussfolgerung:

Es handelt sich um eine Übersichtsarbeit zu diagnostischen und therapeutischen Aspekten von intensivmedizinisch relevanten ZNS-Infektionen.

Kommentar:

Die vorliegende Arbeit ist über weite Strecken sehr oberflächlich gehalten, geht selten in die Tiefe und ist nicht auf dem neuesten Stand. Aktuelle Daten werden vernachlässigt; so stammen von den 156 Literaturzitaten nur 10 aus dem Jahr 2006 und keines aus dem Jahr 2007. Wichtige Kritikpunkte sind:
(1) Der Abschnitt zur Pathophysiologie liefert kein pathophysiologisches Gesamtkonzept der bakteriellen Meningitis. Gerade innerhalb der letzten Jahre konnte unser Verständnis der komplexen pathophysiologischen Abläufe durch experimentelle Studien deutlich verbessert werden. Dies bezieht sich auf die verschiedenen Phasen der bakteriellen Meningitis wie (1) Pathogenerkennung und Immunaktivierung, (2) Immunregulation und Pathogenelimination sowie (3) Neurodegeneration und Neuroregeneration. In der vorliegenden Übersichtsarbeit sind keine experimentellen Arbeiten aus den Jahren 2006 und 2007 zitiert. Daten zur Pathogen-Wirts-Interaktion oder zu den Mechanismen des neuronalen Zellschadens sind nicht oder nur kursorisch erwähnt. Dementsprechend fehlen auch Angaben zu möglichen wichtigen adjuvanten neuroprotekiven Substanzen wie z.B. der Antioxidantien.
(2) Es wird in propädeutischer Art und Weise bekanntes Lehrbuchwissen wiederholt; z.B. Zusammenstellung allgemeiner Liquorbefunde (Zellzahl, Glukose, Protein) der genannten ZNS-Infektionen in der Tabelle 1, oder dieBeschreibung der klinischen Symptomatik beim Hirnabszess, epiduralen Abszess und subduralen Empyem.
(3) Einzelne Angaben sind inkorrekt oder missverständlich:
So wird beispielsweise als charakteristische klinische Präsenation der Herpes-Enzephalitis das Vorliegen einer Herpes-Hauteffloreszenz genannt.
Es wird darauf hingewiesen, dass eine Verzögerung der Antibiotiakatherapie bei Patienten mit bakterieller Meningitis ein ungünstiges klinischen Ergebnis erwarten lässt, dies aber nicht durch harte Daten belegt sei. Gerade in den letzten beiden Jahren sind aber wichtige klinische Studien erschienen, die klar gezeigt haben, dass der verzögerte Beginn einer Antibiotika-Therapie mit einer ungünstigen Prognose vergesellschaftet ist (Proulx et al., 2005; Auburtin et al., 2006). So zeigte eine prospektive klinische Studie bei erwachsenen Patienten mit Pneumokokken-Meningitis, dass die Letalitätszahlen und die Rate neurologischer Residuen bei den Patienten signifikant niedriger waren, die innerhalb von 3 Stunden nach Krankenhausaufnahme antibiotisch behandelt wurden im Vergleich zu den Patienten, bei denen eine Antibiotika-Therapie erst später als 3 Stunden nach Krankenhausaufnahme erfolgte (Auburtin et al., 2006 )
4) Im Abschnitt zur Bedeutung bildgebender Verfahren bei ZNS-Infektionen
werden einerseits Befunde bei Erkrankungen erwähnt, die nicht im Fokus dieses Artikels sind (Neurozystizerkose, Lyme Borreliose), andererseits gibt es keine Informationen zu den viralen Enzephalitiden außer zur HSV-Enzephalitis.
Es wird nur allgemein beschrieben, dass die diffusionsgewichtete MRT in der Diagnostik von Hirnabszessen Relevanz hat, genauere Daten zur Sensitivität und Spezifität fehlen; wissenschaftliche Arbeiten hierzu sind nicht zitiert.
5) Im Abschnitt der nosokomialen Infektionen (inkl. der Ventrikulitis) erfolgt keine kritische Würdigung der neueren Staphylokokkensubstanz Linezolid. Entsprechende in den letzten Jahren publizierte Arbeiten werden nicht erwähnt.
6) Die empfohlenen Antibiotikakombinationen bei den bakteriellen ZNS-Infektionen entsprechen zwar im wesentlichen den Empfehlungen in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Zu hinterfragen ist allerdings die Empfehlung, bei Verdacht auf eine Nokardieninfektion mit Cotrimoxazol zu behandeln (zitiert sind hier Arbeiten von 1998 und 2000), da ein nicht unerheblicher Anteil der Nokardien mittlerweile Cotrimoxazol-resistent ist. Vorzuziehen ist in dieser Situation bespielsweise Meropenem (bis das Ergebnis der Resistenztestung vorliegt).
7) Im Abschnitt "Therapeutische Kontroversen" fehlen wichtige neuere Arbeiten (Übersichtsarbeiten, Meta-Analyse) zu Cortison bei bakterieller Meningitis, z.B. van de Beek et al. Lancet Infect Dis 2004; 4: 139-143; van de Beek et al. Cochrane Database Syst Rev 2007; CD004405. Auf die mögliche Bedeutung von Cortison bei der Herpes-Enzephalitis oder bei den anderen genannten ZNS-Infektionen wird nicht eingegangen.
8) Im Abschnitt zur "intraventrikulären Antibiotikatherapie" werden Vancomycin und Aminoglykoside genannt. Das früher eingesetzte Aminoglykosid Refobacin-L ist allerdings aufgrund der Weiterentwicklung liquorgängiger Antibiotika obsolet und steht nicht mehr zur Verfügung.


(H.-W. Pfister)