Pisani MA, Murphy TE, Araujo KL et al.                                                                                                                                                                                   In: Critical Care Medicine 2009; 37(1):177-183

 

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA_1-2010


Bewertung: **





Zielstellung:

Führt die Analgosedierung mit Benzodiazepinen und Opiaten bei älteren Intensiv-Patienten (≥ 60 J.) zu einer Verlängerung des ICU-Delirs?

 

Design:

Monozentrische prospektive Kohortenstudie über zwei Jahre an einer allgemein-internistischen 14-Betten-Intensivstation eines amerikanischen universitären Lehrkrankenhauses. Eingeschlossen wurden 304 konsekutiv aufgenommene Patienten im Alter von ≥ 60 Jahren. Erfasst wurde täglich der Einsatz von Opiaten (Fentanyl und Morphin), Benzodiazepinen (Lorazepam und Midazolam) und Propofol, daneben etwaige Psychopharmaka. Die Delir-Erfassung erfolgte Montag bis Freitag (!) mittels der "Confusion Assessment Method-ICU" (CAM-ICU) durch geschultes Pflegepersonal. Ein Delir wurde als Medikamenten-assoziiert definiert, wenn der Patient innerhalb der letzten 48 h Benzodiazepine oder Opiate erhalten hatte. Für die explorative Statistik wurde eine bi- und multivariate Varianzanalyse verwendet.


Resultate:

Ein Delir trat bei 79% der eingeschlossenen Studienpatienten auf, bei 72% bereits am Aufnahmetag. Die mittlere Delirdauer lag bei 3 Tagen (1-33 Tage). Die Mehrheit der Patienten (81%) erhielt Benzodiazepine und/oder Opiate, 32% anticholinerge Substanzen und weitere 32% explizit Haloperidol. Propofol wurde nur kombiniert mit Benzodiazepinen verabreicht und nicht gesondert untersucht. Die mit Benzodiazepinen behandelten Patienten wurden mittels der Richmond Agitation Sedation Scale (RASS) in 28% als "lethargisch", 23% als "stuporös oder komatös" und 29% als "wach und ruhig" eingestuft. Haloperidol wurde überwiegend bei "agitierten" Patienten eingesetzt (70%).
Der Einsatz von Opiaten und Benzodiazepinen führte zu einer verlängerten Dauer des ICU-Delirs (OR 1,64, 95% CI, 1,27-2,10). Als weitere Variablen, die zu einer Delir-Verlängerung führten, wurden identifiziert: (1) multivariat: vorbestehende Demenz (RR 1,19), Einsatz von Haloperidol (OR 1,35) und Erkrankungsschwere (APACHE II-Score minus GCS) (OR1,01); (2) bivariat: Intubation (p < 0,001) und Fixierung (p < 0,001) während des Intensivaufenthaltes.

 

Schlussfolgerungen:

Die Autoren schlussfolgern, dass die Analgosedierung mit Benzodiazepinen und Opiaten die Dauer des ICU-Delirs älterer Patienten verlängert und fordern, den Einsatz von Benzodiazepinen, Opiaten und Haloperidol bei Patienten auf der Intensivstation kritisch zu evaluieren. Welche alternativen medikamentösen oder nicht-medikamentösen Strategien stattdessen zur Delirprävention zum Einsatz kommen könnten oder sollten, wird nicht erwähnt.

 

Kommentar:

Die vorliegende Studie adressiert einmal mehr die Problematik der Delirprävention auf der Intensivstation. Das ICU-Delir besitzt eine hohe Relevanz , weil es bei älteren Patienten nicht nur mit einer erhöhten Rate an Komplikationen, Sterblichkeit und kognitiven Langzeitstörungen assoziiert ist, sondern infolge der verlängerten Behandlungsdauer auf der Intensivstation und im Krankenhaus auch zu erhöhten Behandlungskosten führt.
Doch liefern uns die Autoren wirklich neue Informationen, die in den zahlreichen vorausgegangenen Studien zu diesem Thema noch nicht erfasst worden wären? Es überrascht uns nicht, dass ein positiver Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Benzodiazepinen und Opiaten und einer verlängerten Delirdauer nachweisbar war. Dies bestätigt nur andere wichtige Studien (Schweickert and Kress Crit Care 2008, Girard et al. Lancet 2008, Ström T et al. Lancet 2010), die gezeigt haben, dass Sedierungskonzepte mit täglichem "wake-up call", "Wake Up and Breathe"-Protokoll, Bolusgabe statt kontinuierlicher Applikation von Analgosedativa oder kompletter Verzicht auf Analgosedativa zu einer signifikanten Verkürzung der Beatmungs- und Delirdauer und der Intensivbehandlung führten. Damit ist das Ergebnis dieser Studie nichts grundsätzlich Neues.
Weiterhin ist zu kritisieren, dass die Analgosedierung nur in Form einer Ja-Nein-Dichotomisierung erfasst wurde: Differenzierte Angaben zur Dosierung, Applikationsart und –dauer fehlen. Eine Unterscheidung zwischen einzelnen Substanzklassen oder Substanzen mit unterschiedlicher Halbwertszeit wird nicht getroffen. Die Autoren selbst merken außerdem kritisch an, dass Benzodiazepine und Opiate statistisch nicht separat, sondern nur gemeinsam ausgewertet wurden.
Einige wichtige Gesichtspunkte werden dennoch im Nebensatz thematisiert:
(1) Interessant ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Patienten (72%) bereits am Aufnahmetag auf die ICU ein Delir entwickelte. Damit scheinen bei dem beobachteten Intensivkollektiv älterer multimorbider Patienten neben den verabreichten Medikamenten - vor allem die Grunderkrankungen wie beispielsweise Sepsis, Nieren- und Leberversagen und Elektrolytstörungen, aber auch die veränderte Umgebungssituation und der "Stress" eine vorrangige Rolle zu spielen. Auch zeigte die bivariate Regressionsanalyse, dass schon allein eine notwendige Intubation oder Fixierung einen signifikanten Risikofaktor für eine verlängerte Delirdauer darstellt.
(2) Im Diskussionsteil der Arbeit hinterfragen die Autoren kritisch, ob der Einsatz der Analgosedativa bei der Mehrheit der erfassten Patienten überhaupt erforderlich war. 80% der Patienten, die Benzodiazepine erhielten, wurden RASS-basiert zwischen "wach und ruhig" und "stuporös bis komatös" eingestuft. Dies spiegelt wahrscheinlich immer noch den Alltag auf unseren Intensivstationen wider und verdeutlicht nochmals eindrucksvoll die Notwendigkeit der Implementierung von Sedierungsprotokollen mit täglicher Sedierungspause und regelmäßiger kritischer Überprüfung des individuellen Sedierungsziels.
(3) Haloperidol führte in der vorliegenden Studie nicht zu einer Verkürzung, sondern ebenfalls zu einer Verlängerung der Delirdauer. Der unreflektierte Einsatz von Haloperidol auf vielen Intensiv- und Allgemeinstationen zur "reinen" Sedierung psychomotorisch unruhiger Patienten oder gar die präventive perioperative Gabe (Kalisvaart KJ et al. J Am Geriatr Soc 2005) muss angesichts dieser Ergebnisse erneut kritisch hinterfragt werden.
Zusammenfassend bleiben viele wichtige Fragen im Alltag auch nach dieser Studie weiterhin offen: Reduziert eine niedrigere Dosis an Analgosedativa oder die diskontinuierliche Applikation tatsächlich die Delirhäufigkeit und –dauer? Welche Medikamente zur Sedierung agitierter Patienten können und sollen denn nun überhaupt eingesetzt werden? Welchen Stellenwert besitzen neuere Substanzen wie Remifentanil und Dexmedetomidin und wie sieht die optimale medikamentöse Strategie in der Therapie des bereits manifesten Delirs aus? Das Thema bleibt ein "Dauerbrenner", die Studie hilft nicht wirklich weiter.

(W. Dietrich)