Morales IJ, Peters SG, Afessa B
In: Crit Care Med 2003; 31:858-863


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 3-2003


Bewertung: *





Zielstellung:

Es sollte untersucht werden, inwieweit sich der Zeitpunkt der Aufnahme eines Patienten auf die Intensivstation – dichotomisiert in eine Tag- und Nachtschicht - auf die Prognose und die Liegezeit auswirkt.

Design:

Die Daten wurden retrospektiv aus einer Datenbank einer internistischen 15-Betten-Intensivstation eines Krankenhauses der Mayo-Klinik, Rochester zusammengestellt. Die allgemeine Datenerfassung war zuvor allerdings prospektiv erfolgt. Als „Tagperiode“ galt die Zeit zwischen 7.00 und 17.00 Uhr und als „Nachtperiode“ die Zeit zwischen 17.00 und 7.00 Uhr. Die Nachtschicht wurde außerdem noch in eine „frühe“ (17.00 bis 24.00 Uhr) und eine „späte“ (0.00 bis 7.00 Uhr) Phase unterteilt. Ferner wurden die Nachtschichten in solche mit „normaler“ und mit „starker“ Arbeitsbelastung unterteilt (definiert als weniger oder mehr als drei Aufnahmen in der Schicht). Insgesamt wurden die Daten von 6034 37 konsekutiv aufgenommenen Patienten innerhalb einer 5-Jahresperiode zwischen 1995 und 2000 ausgewertet. Die Arbeitszeiten wurden von 3 Intensivstationsteams abgedeckt, wobei ein Team von 7.00 Uhr früh zum Teil bis zum Mittag des nächsten Tages durchgehend arbeitete und am nächsten Tag wiederum einen 10 Stunden-Tag ableisten musste.

Wichtige Resultate:

Die nachts aufgenommenen Patienten (NP) waren jünger, weniger häufig verlegte Patienten, und wiesen eine erhöhte statistisch
vorprognostizierte Sterblichkeitswahrscheinlichkeit als tagsüber aufgenommene Patienten (TP) auf. Die NP hatten verglichen mit den TP (statistisch korrigiert nach Aufnahmegrund und Krankheitsschwere) (1) eine hochsignifikant niedrigere Sterblichkeitsrate (13,9 vs. 17,2%; p<.0001) (2) eine hochsignifikant kürzere Gesamtaufenthaltsdauer im Krankenhaus (11,0 ± 13,5 Tage bzw. Median 7 Tage vs. 12,7 ± 14,8 Tage bzw. Median 8 Tage; p<.0001) (3) eine hochsignifikant kürzere Intensivstationsaufenthaltszeit (3,5 ± 4,4. Tage bzw. Median 2 Tage vs. 3,9 ± 4,7 Tage bzw. Median 2 Tage; p<.0001). Bei den Patienten, die in belasteten Nachtschichten aufgenommen worden waren, zeigte sich mit 13,2% die gleiche Sterblichkeitsrate wie bei den Patienten, die unter ruhigeren Bedingungen aufgenommen worden waren (14,5%). Auch die Verweildauern dieser beiden
Gruppen zeigten keine Unterschiede.

Schlussfolgerung:

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass eine nächtliche Aufnahme auf der untersuchten Intensivstation nicht mit einer höheren Sterblichkeit oder einer längeren Verweildauer einhergeht.

Kommentar:

Die Autoren begründen ihre Studie damit, die Gültigkeit einzelner Berichte über eine schlechtere Prognose von Intensivpatienten, die außerhalb der normalen Dienstzeiten aufgenommen werden, überprüfen zu wollen. Dazu mischen sich noch Abwägungen über die maximal tolerablen zeitlichen Ausdehnungen ärztlicher Schichtdienste und Dienstzeiten in den USA, wo im Moment Wochenarbeitszeiten von über 80 Stunden keine Seltenheit sind. Was sagt uns aber in diesem Zusammenhang nun das (wahrscheinlich unerwartete) Ergebnis der Studie? Antwort: Tagsüber eingelieferten Patienten haben eine schlechtere Prognose! Soll man die Patienten in Zukunft lieber nachts aufnehmen? Mit diesen etwas provokativen Anmerkungen werden schon die vielen methodischen Probleme der Studie offenbar, die zumindest beim nichtamerikanischen Leser mehr Fragen aufwirft, als sie klärt.
Einige dieser Probleme:
(1) Festlegung der Parameter „Liegezeit“ und „Sterblichkeit“! Was sagt Liegezeit über die Qualität einer Intensivbehandlung aus? Kurze Liegezeit kann erhöhte Sterblichkeit oder schnell wirksame effektive und gute Therapie bedeuten.
(2) Mehrere Variablen konfundieren die Tag-/ NachtaufnahmeDichotomisierung: selbst wenn akute Notfälle halbwegs gleich verteilt aufgenommen werden sollten, werden Verlegungen aus anderen Krankenhäusern eher tagsüber organisiert. Der Komplexitätsgrad solcher Patienten dürfte höher sein, was für die „schlechteren“ Ergebnisse der tagsüber aufgenommenen Patienten sprechen könnte.
(3) Da im untersuchten Krankenhaus keine „Intermediate-CareStation“ bestand, dürfte die Intensivstation eine Art Mischcharakter aufweisen aus „Notaufnahmestation“, „Intermediate-CareStation“ und „Intensivstation“. Dafür spricht auch die relativ niedrige Beatmungsquote von 35% bzw. 32,5%.
(4) Letztlich sind auf der Station in 24 Stunden durchschnittlich 3-4 Patienten stationär aufgenommen worden. Das ist nicht sehr viel. Und: eine Nachschicht, die mehr als 3 Patienten aufnimmt als „schwer belastet“ zu qualifizieren ist methodisch unsinnig: 3 Aufnahmen mit klaren Krankheitsbildern, die gut zu managen sind, bei stabilem Verlauf der anderen Patienten, sind für das Intensivteam weniger belastend als eine Nacht ohne Aufnahme mit mehreren instabilen Patienten.
(5) Weiterverlegungen z.B. auf Normalstationen werden vorwiegend tagsüber durchgeführt; dies hat rein rechnerisch zur Folge, dass nachts eingelieferte Patienten „automatisch“ bei annähernd gleicher medizinisch begründeter Liegezeit auf der ICU einen halben Tag länger oder kürzer liegen, als Patienten, die tagsüber eingeliefert werden.
(6) Die ca. 29-Stunden-Schichten eines Intensivteams sind auf deutsche Verhältnisse nicht übertragbar. Damit ist auch die Fragestellung aus unserem Blickwinkel schwer nachzuvollziehen.
(7) Wichtiger als das Tag-/Nachtkriterium für die Prognose dürfte die personelle Besetzung und die Qualifikation des Personals sein.
Zwar wurden in der Studie versucht, die unterschiedlichen und genannten Quellen eines „Bias“ durch statistische Kunstgriffe und Korrekturrechnungen auszugleichen, es ist aber nicht auszuschließen, dass diese komplexen statistischen Verfahren eher überkorrigierend wirksam geworden sind (Hosmer-Lemeshow-Analyse, logistische Regressionen). Interessant für den Neurologen mag noch sein, dass neben Traumata die neurologischen Aufnahmen in der Nacht doppelt so häufig waren wie am Tag. Internistische Diagnosen waren tagsüber und nachts gleich verteilt. Man muss davon ausgehen, dass es vorwiegend berufspolitische Motive waren, die die Autoren zu dieser Studie veranlasst hatten und deren unerwartetes Ergebnis sie jetzt nicht so recht einzuordnen wussten. Angesichts des EuGH-Urteils erscheinen uns 29-Stunden-39 Schichten auf Intensivstationen wie „vom anderen Stern“. Am Schluss räumen die Autoren denn auch ein, dass die Studie an viele Spezifika der untersuchten Institution gebunden sei und daher wahrscheinlich nicht auf andere Institutionen zu übertragen seien. Da fragt man sich dann aber auch, warum die Publikation so vielen Lesern einer immerhin internationalen verbreiteten intensivmedizinischen Fachzeitschrift präsentiert werden muss.

(F. Erbguth)