Schneiderman LJ, Gilmer T, Teetzel HD, Dugan DO, Blustein J, Cranford R,Briggs KB, Komatsu GI, Goodman-Crews P, Cohn F, Young EWD
In: JAMA 2003; 290: 1166-1172


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 1-2004


Bewertung: ****





Zielstellung:

Trägt die klinische Ethikberatung auf Intensivstationen dazu bei, die unangebrachte Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen bei denjenigen Patienten zu verringern, die den Krankenhausaufenthalt nicht überleben? Wie wird Ethikberatung anschließend von den Beteiligten beurteilt?

Design:

Prospektive, randomisierte Multizenter-Studie mit Intent-to-treat-Analyse. An sieben US-amerikanischen Krankenhäusern mit unterschiedlicher Trägerschaft und verschiedenen Patientenkollektiven wurden zwischen November 2000 und Dezember 2002 insgesamt 551 intensivmedizinisch behandelte Patienten ausgewählt, bei denen Konflikte im Hinblick auf die Entscheidung über eine Fortführung oder Beendigung der lebenserhaltenden Therapie auftraten. Aus diesem Kollektiv wurden 278 Patienten in den Arm „Ethikberatung“ randomisiert, die restlichen 273 Patienten in die Kontrollgruppe. Die Ethikberatung erfolgte durch im jeweiligen Krankenhaus etablierte Ethikkonsil-Teams, die nach einheitlichen nationalen Richtlinien vorgingen. Als Endpunkte dienten die Mortalität, die Verweildauer des Patienten auf der Intensivstation bzw. im Krankenhaus, die Dauer der mechanischen Beatmung bzw. der künstlichen Ernährung sowie die mehrere Wochen nach Entlassung oder Tod des Patienten erfragte Einstellung aller Beteiligten zu der stattgefundenen Beratung.

Wichtige Resultate:

Von den 278 Fällen im Interventionsarm „Ethikberatung“ kam es in 211 Fällen tatsächlich zur Beratung, in den übrigen Fällen wurde die Beratung abgelehnt oder war unmöglich bzw. überflüssig geworden. Von den 273 Fällen in der Kontrollgruppe fand nur in 196 Fällen tatsächlich keine Ethikberatung statt, in den restlichen Fällen wurde eine Beratung gewünscht und den Beteiligten nicht vorenthalten. Gemäß dem Intent-to-treatAnsatz wurden diese „Crossover-Fälle“ jedoch in den ursprünglich randomisierten Studienarmen belassen.
Die Mortalitätsrate unterschied sich nicht in den beiden Studienarmen. Bei denjenigen Patienten, die den Krankenhausaufenthalt nicht überlebten (173 im Interventionsarm, 156 im Kontrollarm), zeigte sich eine signifikante Verringerung der Verweildauer auf der
Intensivstation (P=0.03) bzw. im Krankenhaus (P=0.01), wenn eine Ethikberatung durchgeführt wurde, verglichen mit der Kontrollgruppe ohne Beratung. Ebenfalls reduziert waren die Dauer der mechanischen Beatmung (P=0.03) und der künstlichen Ernährung (P=0.14). Umgekehrt zeigte sich kein signifikanter Unterschied in den genannten Endpunkten bei den Patienten, die bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus überlebten. Die Befragung der Beteiligten ergab eine Rücklaufquote von 91% für Patienten bzw. Angehörige und 100% für Ärzte und Pflegekräfte. 87% der befragten Patienten/Angehörigen bzw. Ärzte/Pflegekräfte meinten, dass die Beratung hilfreich gewesen sei, und 80% der Patienten/Angehörigen sowie 90% der Ärzte/Pflegekräfte gaben an, sie würden eine Ethikberatung in einem zukünftigen Fall erneut in Anspruch nehmen.

Schlussfolgerung:

Die klinische Ethikberatung zeigte sich als brauchbares und von allen Beteiligten akzeptiertes Instrument, um Konflikte zu lösen, die eine nutzlose (nonbeneficial) Verlängerung lebenserhaltender Maßnahmen zur Folge haben.

Kommentar:

Diese methodisch sorgfältig konzipierte und implementierte Studie ist eines der wenigen Beispiele einer randomisierten und semiquantitativen Untersuchung in der klinischen Ethik. Eine wesentliche methodische Stärke ist der „Intent-to-treat-Ansatz“, der dem Ergebnis eine größere Robustheit verleiht. Ein weiterer Pluspunkt ist die breite, geographisch wie sozioökonomisch heterogene Auswahl der an der Studie teilnehmenden Krankenhäuser, die nicht nur einen erstaunlich repräsentativen Querschnitt amerikanischer Patienten und deren Angehörigen ermöglicht, sondern auch einen ebenso repräsentativen Querschnitt amerikanischer Ärzte und Pflegekräfte. Allerdings wurden nur solche Krankenhäuser ausgewählt, die ein etabliertes und damit ebenso erfahrenes wie intern akzeptiertes Ethikkonsil seit längerem institutionalisert hatten. Die Studie ist damit nicht eins zu eins auf die deutsche Situation übertragbar, wo es noch kaum klinische Ethikberatung gibt, geschweige denn einheitliche Standards dafür. Allerdings kann sie in der gegenwärtigen Überlegung, ob und wie klinische Ethikberatung in deutsche Krankenhäuser eingeführt werden soll, durchaus als Entscheidungshilfe dienen. Die Studie stellt eine Art proof of principle für die Wirksamkeit klinischer Ethikberatung dar und liefert damit ein Argument für die Einführung derselben.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass eine derartige Ethikberatung die Mortalitätsraten im Krankenhaus nicht verändert, d.h. es wird niemand sterben gelassen, der nicht ohnehin in Kürze sterben wird oder bereits im Sterben liegt. Was die Beratung laut dieser Studie erzielt, ist eine Verringerung der präfinalen Leidenszeit auf der Intensivstation. Dieser Ergebnis ist intuitiv zu erwarten, da die Ethikberatung im wesentlichen eine Art Katalysator-Effekt hat: Sie beschleunigt die Entscheidung aller Beteiligten, lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden. Dies geschieht dadurch, dass die klinische Ethikberatung durch Kommunikation und Konsens den einzelnen Beteiligten und Entscheidungsträgern emotionale Unterstützung, moralische Bekräftigung und rechtliche Absicherung bietet. Freilich lässt auch diese Studie noch viele Fragen offen. Wie wirkt sich die klinische Ethikberatung auf die Lebensqualität des Patienten aus, insbesondere während jener kurzen Zeit auf der Intensivstation vor der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen? Kommt eine Verlängerung dieser Maßnahmen bei unabweisbarem Tod wirklich einer Leidensverlängerung gleich? Wie sind die Langzeitauswirkungen der klinischen Ethikberatung auf alle Beteiligten? Und wie fällt eine ökonomische Analyse der Kosten einer klinischen Ethikberatung in Relation zu den Kosteneinsparungen durch weniger intensivmedizinische Leistungen aus?

(R. Jox)