Cook D, Rocker G, Marshall J, Sjokvist P, Dodek P, Griffith L, Freitag A, Varon J, Bradley C, Levy M, Finfer S, Hamielec C, McMullin J, Weaver B, Walter S, Guyatt G, for the Level of Care Study Investigators and the Canadian Critical Care Trials Group
In: New Engl J Med 2003; 349: 1123-1132

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 1-2004


Bewertung: ***





Zielstellung:

Welche klinischen Faktoren sind mit der Entscheidung zur Beendigung der mechanischen Beatmung auf der Intensivstation assoziiert?

Design:

Prospektive, multizentrische Beobachtungsstudie an insgesamt 851 Patienten in internistischen oder chirurgischen Intensivstationen (11 in Kanada, 2 in den USA, 1 in Schweden, 1 in Australien). Einschlusskriterien: Beatmungspflichtige, erwachsene Patienten, 16 von denen erwartet wurde, dass sie für mindestens 72 Stunden auf der Intensivstation liegen. Bei Aufnahme auf die Intensivstation wurden folgende Baseline-Merkmale dokumentiert: Alter, Geschlecht, diagnostische Kategorie, APACHE II score, oberärztliche Beurteilung des funktionellen Zustandes des Patienten. Täglich dokumentiert wurden: Multiple Organ Dysfunction Score, Gabe von Katecholaminen (genauer alle inotropen und vasopressiven Substanzen), Anwendung der Hämodialyse, Do-not-resuscitate Order, Fähigkeit des Patienten zur Entscheidungsteilhabe, Prognose des Oberarztes über die Überlebenswahrscheinlichkeit des Patienten, über den voraussichtlichen funktionellen und
kognitiven Zustand des Patienten einen Monat nach Entlassung aus der Intensivstation sowie die Einschätzung des Oberarztes bezüglich der Behandlungspräferenzen des Patienten. Endpunkte der Studie waren die erfolgreichen Entwöhnung des Patienten von der Beatmungsmaschine, der Tod des Patienten unter Beatmung oder die gezielte Beendigung der mechanischen Beatmung im Sinne der passiven Sterbehilfe.

Wichtige Resultate:

Von den 851 Patienten in der Studie wurden 539 (63.3%) erfolgreich von der mechanischen Beatmung entwöhnt, 146 (17.2%) starben unter Beatmung, und bei 166 (19.5%) wurde die Beatmung abgestellt. Von diesen 166 Patienten starben 160, 6 Patienten überlebten jedoch und wurden später aus dem Krankenhaus entlassen. Von allen Patienten, die während der Beobachtungszeit im Krankenhaus starben, trat der Tod bei 47.7% als Folge der Beendigung der mechanischen Beatmung und bei insgesamt 66.1% als Folge der Beendigung von Beatmung, Dialyse oder Katecholaminen auf. Die mediane Verweildauer auf der Intensivstation betrug 9 Tage für die erfolgreich entwöhnten Patienten, 6 Tage für trotz Beatmung gestorbenen Patienten und ebenso 6 Tage für die Patienten, bei denen die Beatmung abgeschaltet wurde. Die mediane Beatmungsdauer betrug für die genannten Kollektive respektiv 4.5, 6 und 6 Tage. Die Patienten, deren Beatmung beendet wurde, hatte auch eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, dass ihre Katecholaminzufuhr und ihre Hämodialyse eingestellt wurde. Diese Patientengruppe zeichnete sich gegenüber den anderen beiden durch ein signifikant höheres mittleres Alter aus (64.4 versus 60.4 bzw. 60.1, P=0.02). Die Autoren führten eine multivariate Analyse durch, um mit Hilfe der Baseline-Daten eine Risikogruppe von 300 Patienten zu identifizieren, bei denen eine höhere Wahrscheinlichkeit bestand, dass ihre Beatmung beendet wurde. In diesem Kollektiv gab es nach multivariater Analyse vier voneinander unabhängige Prädiktoren, die signifikant mit der Beendigung der Beatmung assoziiert waren: 1. Die Gabe von Katecholaminen (Hazard Ratio (HR) 1.78 (1.20-2.66), P=0.004); 2. Die Prognose des Oberarztes, dass der Patient weniger als 10% Überlebenswahrscheinlichkeit hat (HR 3.49 (1.39-8.79), P=0.002); 3. Die Prognose des Oberarztes, dass der Patient einen Monat nach Entlassung aus der Intensivstation auf Grund 17 des kognitiven Zustandes das Krankenhaus nicht wird verlassen können (HR 2.51 (1.28- 4.94), P=0.04); 4. Die Einschätzung des Oberarztes, dass der Patient mutmaßlich keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht (HR 4.19 (2.57-6.81), P<0.001).

Schlussfolgerung:

Die Autoren folgern, dass nicht physiologsiche Parameter und Krankheitsscores bei Aufnahme auf die Intensivstation prädizieren, bei welchen Patienten die mechanische Beatmung eingestellt wird, sondern die Beurteilung des mutmaßlichen Patientenwillens, die medizinische Prognose sowie der Bedarf an Katecholaminen.

Kommentar:

Die Studie ist zwar multizentrisch angelegt und beeindruckt durch hohen Patientenzahlen, enthält jedoch einige Fragwürdigkeiten und wird in ihrer Publikation nicht klar genug dargestellt. Unklar bleibt etwa, wieso die Autoren erst eine Risikogruppe identifizieren müssen, um nach Prädiktoren für den Beatmungsabbruch zu forschen. Nicht erklärt wird auch, weshalb 6 von 166 Patienten nach Beendigung der Beatmung nicht sterben und in welchem Zustand sie das Krankenhaus verlassen. Die Prognose des Oberarztes über Überlebenswahrscheinlichkeit und kognitives Outcome mögen durchaus relevante Faktoren im Entscheidungsprozess dieses Arztes und des gesamten medizinischen Teams sein. Es wird jedoch nicht klar, inwiefern diese Faktoren motivierend sind oder lediglich eine bereits getroffene Entscheidung rationalisieren. Es erscheint immerhin möglich, dass noch andere Faktoren eine Rolle spielen, die das Autorenteam gar nicht untersucht hat (z.B. ethnische oder religiöse Zugehörigkeit des Patienten, sozioökonomischer oder Versicherungsstatus, Meinung der Angehörigen, Meinung des medizinischen und pflegerischen Kollegen). Dass die Einschätzung des mutmaßlichen Patientenwillens ein bestimmender Faktor für die Entscheidung über die Beendigung der mechanischen Beatmung zu sein scheint, wird von den Autoren zu Recht als ermutigend herausgestellt, stimmt es doch überein mit den Grundprinzipien einer auf die Autonomie des Patienten gegründeten medizinsichen Ethik. Leider wird in der Studie nicht spezifiziert, wie die Ärzte den mutmaßlichen Patientenwillen ergründen, d.h. ob sie auf Patientenverfügungen rekurrieren, die Angehörigen um Rat fragen, mit Kollegen diskutieren oder sich primär von eigenen, auf die Patienten projizierten Präferenzen leiten lassen. Hier wäre es hochinteressant gewesen zu erfahren, wie sehr etwa Patientenverfügungen mit der Beendigung der Beatmung assoziiert sind. Die Generalisierbarkeit der Studienergebnisse ist weniger eindeutig als von den Autoren behauptet. Die Studienzentren waren allesamt universitäre Kliniken, die auf das angelsächsische Medizinmodell beschränkt sind. Letztlich leidet die aufwändig durchgeführte
Studie aber vor allem darunter, dass der praktische Nutzen der Ergebnisse – ja bereits der Fragestellung - zweifelhaft bleibt. Was eine so angelegte Studie bestenfalls leisten kann, ist eine psychologische Momentaufnahme der wahrscheinlichen Motive von Ärzten für die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen. Erkenntnisse auf dieser faktischen Ebene können freilich nie dazu verwendet werden, normative Sätze daraus abzuleiten. Wann man also in einem individuellen Fall die Beatmung einstellen und den Patienten sterben lassen soll und darf, wird durch derartige Untersuchungen keineswegs klarer. Dass die ethischen Fragen der passiven Sterbehilfe von äußerster klinischer Relevanz sind, unterstreicht ein überraschendes Ergebnis dieser Studie, wonach 66.1% aller im Krankenhaus verstorbenen Intensivpatienten durch passive Sterbehilfe starben.

(R. Jox)