Sprung CL, Cohen SL, Sjokvist P, Baras M, Bulow HH, Hovilehto S, Ledoux D, Lippert A, Maia P, Phelan D, Schobersberger W, Wennberg E, Woodcock T, for the Ethicus Study Group
In: JAMA 2003; 290: 790-7


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 1-2004


Bewertung: *****





Zielstellung:

Erfassung der präletalen Intensivtherapie in Hinblick auf die folgenden Kategorien einer Therapiebegrenzung: Vorenthalten/Nichterweitern (VE), Entziehen (EZ) und aktives Verkürzen (AV) mit Evaluation regionaler wie religiöser Unterschiede.

Design:

konsekutive multizentrische prospektive Beobachtungsstudie mit einzelfallbezogener Einschätzung durch den „verantwortlichen Intensivarzt“; im Mittel jeweils 2 Stationen aus 17 Ländern (inkl. Türkei und Israel; exklusive Frankreich wegen versagtem lokalem Ethikvotum), die nach Nord-, Zentral- und Südeuropa zusammengefasst wurden.

Wichtigste Resultate:

a) Von ca. 31.000 intensivbetreuten Patienten starben ca. 13%;
b) bei 76% der Gestorbenen bzw. bei 73% aller Patienten gab es irgendeine Therapiebegrenzung;
c) aufgeteilt in Nord-Zentral-Süd waren Todesursachen: erfolglose Reanimation 10-18-30%, Hirntodfeststellung 3-8-12%, VE 38-34-40%, EZ 47-34-18%, AV 1-7-0%;
d) von AV wurde aus 9 Zentren in 7 Ländern berichtet, die meisten Patienten kamen aus einem einzelnen Zentrum;
e) zur AV wurden Morphin, Benzodiazepine und Opioide angewandt in etwa der Dosis, die auch bei anderen Patienten ohne explizites Ziel einer AV eingesetzt wurden;
f) eine Therapiebegrenzung wurde beschlossen nach median 1,6 (Nord), 3,3 (Zentral) bzw. 5,7 Tagen (Süd);
g) nach Beschluss irgendeiner Therapiebegrenzung trat der Tod innerhalb median 14,3 h (VE), 4,0 h (EZ) bzw. 3,5 h (AV) ein; die prädiktive 24-h-Letalität betrug für VE 50%, EZ 80%, AV 93%;
h) signifikante (OR) Entscheidungsgründe für eine irgendeine Therapiebegrenzung waren Alter (1,02) und Verweildauer auf ICU (1,03), sich im Norden (7,4) oder Zentral (3,8) aufzuhalten, an Erkrankungen HIV (10,7), ZNS (7,2), Karzinom (2,7), Sepsis/Lunge/Gastrointestinum (ca. 2,x); signifikant größere Bereitschaft zu einer Therapiebegrenzung bestand bei Protestanten, Katholiken, Areligiösen gegenüber Juden,
Moslems, griechisch-Orthodoxen, die alle überhaupt niemals AV ausführten.

Kommentar:

Das Hauptergebnis der Studie ist zunächst nicht sehr aufregend, denn sie bestätigt, was wir aus zahlreichen weltweiten, wenn auch nicht prospektiven, Erhebungen bereits wussten: auf Intensivstationen wird häufig gestorben (jeder siebte), und differente Therapien werden bei bestimmten Diagnosen (leider zählt eine akute Hirnschädigung dazu) gar nicht selten vorenthalten (37%) oder entzogen (33%), während Lebensalter und Verweildauer auf ICU zwar signifikant, aber nur relativ schwach in solche Entscheidungen eingehen. Spannend ist dagegen die Dokumentation unter dem Schutz der Anonymisierung, dass in 2,2% der Fälle (also jeder 45ste, der die Intensivstation tot verlässt) eine aktive Euthanasie ohne Einverständnis des oder Aufforderung durch die Patienten vollzogen wurde. Das ist in allen befragten Ländern illegal. Elektrisierend ist aber das Ergebnis, dass sowohl medizinische Maßnahmen wie ethische Entscheidungen so gravierend und signifikant davon abhängen, wo in Europa (inklusive Vorderasien) man sich gerade befindet und welche Religionszugehörigkeit der behandelnde Arzt hat. Denn das bedeutet, dass es keine verbindliche „beste medizinische Praxis“ und allgemein akzeptierte ethische Verbindlichkeiten bei end-of-life-Entscheidungen gibt. Man kann zwar über die vorgenommene Einteilung Europas streiten, der Ko-Linearität von Region und Religion wurde auch nicht weiter nachgegangen, und was bedeutet schon der Terminus Religions-Zugehörigkeit, der bekanntermaßen mental und praktisch sehr unterschiedlich ausgefüllt wird. Auch über die unterschiedlichen Gesundheitssysteme bzw. die in ihnen verfügbaren Ressourcen kann man lange ohne Hoffnung auf ein Ergebnis disputieren. Das kann aber alles nicht erklären, warum in „Südeuropa“ z.B. seltener Therapie entzogen wird und stattdessen Tod infolge dann irgendwann unmöglicher Reanimation oder von Hirntodfeststellung eintritt. Nebenbei wäre hier die bekannte Diskussion zu eröffnen, ob reanimieren bis zum Ende eine akzeptable und (menschen-) würdige Behandlung darstellt.
An nosologischen Kenntnissen und Einschätzungen kann dies unterschiedliche Verhalten nicht liegen, denn vorenthalten wurde Therapie bei Einschätzung einer infausten Prognose überall gleichermaßen. Es scheinen also eher ethische Gesichtspunkte bzw. irgendein regional unterschiedlicher soziokulturell bedingter gesellschaftlicher Konsens eine Rolle zu spielen. Die für sichere Interpretationen notwendige Erfassung dieses Hintergrunds konnte die Studie selbstverständlich nicht leisten. Nun hat Europa unbestreitbar unterschiedliche Geistestraditionen, insbesondere auch unter Einbeziehung von Türkei und Israel. Ob die Art der Religionszugehörigkeit wirklich eine bestimmende Rolle spielt, wage ich auch ohne Befragung eines Theologen zu bezweifeln. Es ist auch nicht anzunehmen, dass zwei Intensivstationen pro Land wirklich treffsicher repräsentativ sind, zumal die Datenerhebung ja auch von einem Einzelnen, dem „verantwortlichen Intensivarzt“ vorgelegt wurde. Das wird durch das einzelne Zentrum mit hoher Quote von aktiver Euthanasie demonstriert.
Die einzig mögliche Schlussfolgerung daraus ist meines Erachtens, dass für Therapieentziehung wissenschaftlich eine Datenlage erarbeitet werden muss, die zu einer allgemein akzeptablen medizinisch sinnvollen Handlungsmaxime führt, die zugleich mit den weltweit verbindlichen Grundwerten von Menschenrecht und Menschenwürde abzustimmen ist. Wenn ETHICUS das anstoßen kann, wird die weitere Bedeutung dieser Untersuchung klar. Besonderes Augenmerk bedarf der Bericht über aktive Euthanasie. Gab es in Zentraleuropa und insbesondere an dem einen Zentrum sendungsbewusste „Todesengel“, oder wurde hier eine zweckgebundene Intention zugegeben, die andere, insbesondere in den südlichen Stationen, nur nicht preisgegeben oder unbewusst verleugnet haben? Dafür könnte die Ähnlichkeit der zur Lebensverkürzung eingesetzten Medikation sprechen mit der, die mit der Zielsetzung einer Erleichterung und ohne explizite Inkaufnahme früheren Todeseintritts angewandt wurde. Im Übrigen fragt man sich jenseits aller ethischen und forensischen Überlegungen, womit aktive Euthanasie unter diesen Bedingungen überhaupt zu rechtfertigen ist, wenn Entziehen von differenten Therapiemaßnahmen fast ebenso rasch zum Tode führt.
Medikationen zur Palliation sind weltweit akzeptiert Bestandteil der „besten medizinischen und humanitären Praxis“. ETHICUS hat die wichtige und meines Wissens bisher weitestgehend unbeantwortete Frage aufgeworfen, wo die Grenze zwischen Palliation im bestmöglichen Sinne und einer aktiven Euthanasie verläuft. Darüber hinaus wurde durch ETHICUS ein dringender Klärungsbedarf aufgedeckt, welche (und inwieweit) medizinische Entscheidungen kulturabhängig sein dürfen, und welche Dimensionen der besten medizinischen Fürsorge davon frei sein müssen.

(W. Müllges)