Hüttemann E, Schelenz C, Sakka SG, Reinhart K
In: Intensive Care Med (2000) 26: 422-425


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 1-2004


Bewertung: ***





Zielstellung:

Bestimmung der Aussagekraft eines negativen Atropintests in der Hirntoddiagnostik im Hinblick auf das Eintreten eines zerebralen Zirkulationsstillstandes bei primär supratentoriellen Hirnläsionen.

Design:

Prospektive, monozentrische Beobachtungsstudie an n = 45 konsekutiven Patienten, keine Intervention

Wichtige Resultate:

Bei fehlender Reaktion auf ansteigende Atropindosen zeigte sich bei ICPdysregulierten Patienten mit therapierefraktärer Pupillendilatation dopplersonographisch ein zerebraler Zirkulationsstillstand (ZZS) in 32 von 45 Fällen. Umgekehrt waren in den übrigen 13 der 45 Fälle mit erhaltener Reaktion auf Atropin Hinweise auf eine Restperfusion gegeben. Acht dieser Patienten hatten bei ZZS-typischen Flussprofilen im vorderen Stromgebiet erhaltene anterograde Flussprofile im hinteren Stromgebiet. Parallel zum Verlust der Atropinreaktion dieser Patienten verschlechterten sich in nahezu allen Fällen die dopplersonographischen Befunde, nunmehr mit ZZS-typischen Flussprofilen auch im hinteren Stromgebiet. Einziger Ausnahmefall war ein in der hinteren Schädelgrube dekomprimierter Patient mit erhaltener basilärer Restströmung bei aber ansonsten komplettem Hirntodsyndrom (inklusive negativem Atropintest).

Schlussfolgerung:

Obwohl keine sichere Voraussage damit möglich ist, weist ein negativer Atropintest auf den bereits eingetretenen Zirkulationsstillstand in der hinteren Schädelgrube bei Patienten im erwarteten Hirntodsyndrom nach supratentorieller Hirnschädigung hin.

Kommentar:

Die Arbeit wirft einige interessante Fragen auf und unterstreicht dabei die praktische Hilfestellung der Atropintestung als Baustein für die untere Hirnstammfunktion im Puzzle der Hirntoddiagnostik. Zurückhaltender ist der Brückenschlag einordnen, den die Autoren mit der Bezugnahme eines klinisch neurophysiologischen Kriteriums (Ausfall der zentral-vagalen Efferenz bei negativem Atropintest) mit den vaskulär-arteriellen Aspekten 27 des Hirntodsyndroms versuchen. Ebenso gut könnte man die herniationsvermittelte Kompressionsschädigung oder die venöse Kongestionsblutung als Ursache des Funktionsverlustes der Medulla oblongata angeben. Die Auffassung der Autoren, dass die fraktionierte Atropingabe in einem vernünftigen Dosierungsschema (0,25-0,5-0,5-0,5-1,0 mg) als relativ kostengünstige, nicht invasive und bettseitig einsetzbare Methode mit wenig Aufwand eingesetzt werden kann, kann nur unterstrichen werden. Bereichernd ist die Diskussion über Testkriterien nach Atropininjektionen, wonach die Wahl des Grenzwertes (3%iger Anstieg der AusgangsHerzfrequenz) wohl allgemein empfohlen werden kann. Die Fallzahl von 45 konsekutiven Patienten ist im Vergleich zu den ansonsten mit weit geringeren Patientenzahlen ausgestatteten Publikationen positiv hervorzuheben. Interessanterweise waren alle Atropininjektionen kardiovaskulär nebenwirkungsfrei vertragen worden, auch bei positiver Reaktion. Aber wozu nützt er? Illustriert wird der Nutzen eines positiven Testresultats, das Zweifel am Hirntodsyndrom ohne weiteren Aufwand untermauern kann. Sorgfältig wird auch die Interpretation des Einzelfalls herausgearbeitet, der diskordant beim negativen Atropintest doch erhaltene anterograde Flussprofile zumindest im hinteren Stromgebiet nach Dekompression der hinteren Schädelgrube nachgewiesen hatte. Problematisch erscheint jedoch die Haupt-Schlussfolgerung, dass mittels Atropintestung eine Verringerung des Untersuchungsaufwandes in der Hirntoddiagnostik in Bezug auf die Dopplersonografien herbeizuführen wäre. Schon die Richtlinien der Hirntoddiagnostik (im Ärzteblatt 1998, Anmerkung 8, Punkt 2) weisen darauf, dass Doppler Verlaufsuntersuchungen durch den gleichen Untersucher die Befunderhebung absichern. Anderenfalls kann das häufig anzutreffende Fehlen eines Strömungssignals nicht verlässlich als fehlende Blutströmung interpretiert werden (u.a. Schallfensterproblematik). Das hier zur Ressourcenschonung vorgeschlagene Abwarten eben bis zur Feststellung eines negativen Atropintests könnte also gerade den geeigneten Zeitpunkt der Erhebung dopplersonographischer Ausgangswerte mit noch erhaltenen schwachen Restflüssen verpassen. Umgekehrt wird “ein Schuh daraus“: Gerade beim Patienten im inkompletten Hirntodsyndrom mit noch positiver Reaktion auf Atropin besteht eine sinnvolle Indikation zur ersten
Dopplersonografie, um Ausgangswerte zu erheben. Der nächste Schritt nach hiermit dokumentierter sonographischer Untersuchbarkeit des Patienten könnte durchaus im Sinne der Autoren wie folgt lauten: Kontrolle des Atropintests, bevor der gleiche Doppler-Kollege wieder auf den Plan gerufen wird. Somit vielleicht doch eine Anregung zum Sparen von
Ressourcen ?

(H.-C. Hansen)

Literatur:
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer. Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes. Deutsches Ärzteblatt (1998) 95: A1861-8