Aktuelle Publikationen von Interesse 2010Thomas Strøm, Torben Martinussen, Palle Toft. Lancet 2010; 375: 475–80.


Referenten:

Hagen B. Huttner (Neurologische Intensivstation Univ.-Klinik Erlangen)
Oliver W. Sakowitz (Neurochirurgische Intensivstation Univ.-Klinik Heidelberg)
 


Zusammenfassung:

In der vorliegenden Arbeit wurde untersucht, ob die Beatmungszeit von Intensivpatienten durch ein Regime einfacher morphinbasierter Analgesie gebenüber einer „Standard“-Analgosedierung verkürzt werden kann. Kernüberlegung war, dass internistische und chirurgische Patienten, die beatmungspflichtig sind, gewöhnlich analgosediert werden. Dies erschwert jedoch die Erhebung des klinischen Zustandes und ist ferner mit einer erhöhten Rate an Konplikationen (z.B. Respirator-assoziierte Pneumonien, etc.) verbunden. Die Dänische Arbeitsgruppe randomisierte in dieser zweiarmigen prospektiven Studie 140 Patienten einer großen interdisziplinär-anästhesiologischen Intensivstation, die intubiert und beatmet wurden und von denen die behandelnden Ärzte annahmen, dass sie mindestens 24 Stunden beatmungspflichtig sein würden (hauptsächlich Pneumonie- und Sepsispatienten). Beide Gruppen wurden zwar mit intravenösen Morphin-Boli behandelt, die erste Gruppe erhielt jedoch keine Sedativa, wohingegen die zweite Gruppe mit einer Kombination aus Propofol und Midazolam sediert wurde und täglich eine Unterbrechung der Sedierung zur klinischen Evaluation durchgeführt wurde. Primärer Endpunkt waren die Beatmungstage, ferner wurden die Behandlungstage auf der Intensivstation und die gesamte Krankenhausdauer erfasst.  

Als Kernergebnis konnten die Autoren zeigen, dass diejenigen Patienten ohne Sedierung – im Vergleich zur sedierten Patientengruppe – signifikant weniger Beatmungstage aufwiesen, kürzer auf der Intensivstation behandelt werden mussten und insgesamt kürzer hospitalisiert waren. Allerdings tolerierten einige Patienten die “no sedation”-Strategie nicht und es traten auch häufiger agitiert-delirante Zustandsbilder auf. Die Inzidenz beatmungs-assoziierter Pneumonien war insgesamt nicht beeinflusst. Die Autoren schlussfolgern, dass eine Behandlung intubierter Patienten ohne Sedierung vorteilhaft sein kann und verweisen auf die Notwendigkeit, die Ergebnisse multizentrisch, an größeren Patientenzahlen, und mit Einbeziehung eines klinischen Endpunkts zu verifizieren.


Kommentar
:

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit einem sehr interessanten Ansatz zu einem Dauerbrenner in der intensivmedizinischen Debatte um die bestmögliche Behandlung intubierter Patienten: Opioid-basierte Sedierung vs. Hypnotika-basierte Sedierung. Der vorgeschlagene Algorithmus birgt ein großes Potenzial, tatsächlich in der klinischen Routine auf internistisch-chirurgischen Intensivstationen Einsatz zu finden. Die vorhandenen Studien zu Neurointensivpatienten sind nicht einheitlich, legen allerdings nahe, dass auch diese Patienten von einer „no-sedation“-Strategie profitieren könnten. Kernprobleme der vorliegenden Arbeit sind, dass die Analyse nur unizentrisch, mit geringer Patientenanzahl, und nicht verblindet durchgeführt wurde.

Dennoch ist eine große Außenwirkung dieser Studie wünschenswert, da all zu oft Patienten sediert werden ohne zuvor tatsächlich die individuelle Notwendigkeit einer Analgosedierung zu prüfen. Dies führt zu einer “selbsterfüllenden Prophezeihung” in einer Weise, dass die Analgosedierung eher zu lange beibehalten wird. Die vorliegende Studie zeigt erneut auf, wie wichtig es ist, die grundlegenden Maßnahmen der intensivmedizinischen Therapie zu hinterfragen und sich auf überprüfbare (und damit auch verwerfbare) Protokolle zu einigen. Der hier vorgestellten Ansatz sollte anhand größerer Studien valide analysiert werden, um die – teils beatmungsassoziierte – Morbidität und Mortalität von Neuro-Intensivpatienten weiter zu senken. Bis dahin ist der im deutschsprachigen Raum verbreitete Ansatz einer protokoll-basierten „bedarfsadaptierten Sedierung“ sicher ein guter Kompromiss. 


Weiterführende Literatur:

  • Karabinis A, Mandragos K, Stergiopoulos S, Komnos A, Soukup J, Speelberg B, u. a. Safety and efficacy of analgesia-based sedation with remifentanil versus standard hypnotic-based regimens in intensive care unit patients with brain injuries: a randomised, controlled trial [ISRCTN50308308]. Crit Care. 2004 Aug;8(4):R268-280.   
  •  Kelly DF, Goodale DB, Williams J, Herr DL, Chappell ET, Rosner MJ, u. a. Propofol in the treatment of moderate and severe head injury: a randomized, prospective double-blinded pilot trial. J. Neurosurg. 1999 Juni;90(6):1042-1052.