ANIM2018 Praesidenten Symposium „Angst war nie ein Thema hier.“ Mit diesem Satz eröffnete Prof. Dr. Wolfgang Müllges heute das Präsidentensymposium auf der ANIM 2018 – Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin in Würzburg. Ihm steht es als diesjährigem Kongresspräsidenten zu, einem Symposium seine persönliche Ausprägung zu geben. Er klärte das Auditorium darüber auf, dass noch nie das Thema Angst im wissenschaftlichen Programm der ANIM aufgegriffen wurde. „Wir müssen immer wieder erleben, dass viele Patienten schlechte, angstbesetzte Erinnerungen an uns und die Zeit auf der Intensivstation haben, ganz unabhängig vom Behandlungserfolg.

Ich frage mich seit langem, was wir tun können, um die schlechten Erfahrungen aus der Zeit der Schwerstkrankheit nicht in das Gehirn unserer Patienten einbrennen zu lassen“, führte er aus. „Ich bin sehr sicher, dass uns Gustav Schelling, der sich seit Jahren intensiv mit der Neurobiologie dieses traumatischen Gedächtnisses auseinandersetzt, gut verständliche Einblicke in dieses, den meisten Intensivmedizinern nicht vertraute Gebiet, gewähren wird.“

Prof. Dr. Gustav Schelling erläuterte in seinem Vortrag, über welche Wege sich traumatische Erinnerungen im Gehirn konsolidieren und dann für den Abruf auch in unspezifischen Situationen in den Vordergrund drängen können – mit schwerwiegenden langfristigen Folgen für die seelische Gesundheit. Es gibt Schlüsselwege, die durch Stresshormone aktiviert werden und weitere, die Erinnerungen festigen. Katecholamine, Glucocorticoide und Endocannabinoide regulieren diese Stressreaktion und beeinflussen zudem auch das traumatische Gedächtnis. Die Aktivierbarkeit wird durch verschiedene individuelle genetische Faktoren beeinflusst. Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) ist der Prototyp der stress-assoziierten Erkrankung. PTSD ist verbunden mit dem Wiedererleben der Angstsituation, mit Alpträumen und Schlafstörungen, Flashbacks und Einschränkungen der sozialen Funktionsfähigkeit. Sie ist eine der häufigsten Langzeitkomplikationen (bis >20%) und befördert Depression, Suizid, Alkoholkrankheit und die verstärkte Aggression. Langzeitfolge ist zudem eine erhöhte kardiovaskulär bedingte Sterblichkeit.

Anästhetika und Sedativa haben unterschiedliche Effekte auf das traumatische Gedächtnis (Stressreaktion!). Gut untersucht sind Glukokortikoide, Ketamin, Propofol und Dexmedetomidin, die alle unterschiedlich auf Speicherung und Gedächtnisabruf unter Stress wirken. Dies ist der Ansatz für eine denkbare individualisierte Sedierung. Allerdings ist es natürlich nicht möglich, bei jedem Patienten genetische Untersuchungen vor jedem Eingriff zu machen. Es ist aber möglich, starke negative Reize, die später als Angstsignal wirksam werden können, weiter zu reduzieren. Dieser neurobiochemische Ansatz hat auch Bedeutung für Sedierungskonzepte.

Die Angst vor dem, was im Alltag einer Neurointensivstation passiert oder passieren könnte, lässt mit Wissen und Erfahrung nach. Aber die Realität sieht oft so aus, dass genau diejenigen, die die Sicherheit aus Erfahrung nicht haben – die jungen Ärzte – in Nachtschichten plötzlich einer Verantwortung gegenüberstehen, die ihnen verständlicherweise Angst macht. „Ich erinnere mich sehr gut an meine Jungarzt-Zeit, als Angst und Befürchtungen in der Notfallsituation völlig tabu waren. Das war schlecht“, berichtet Müllges. Was kann ein Vorgesetzter nun tun, um seinen „Frontleuten“ Angst zu nehmen? Eine gewisse Parallele erwartete er sich bei der Bereitschaftspolizei, die auch niemals weiß, was da Brenzliges auf sie zukommt. Deshalb lud er Polizeirätin Ev Kunz mit ihrem Vortrag „Welcome to hell“ ein. „Ich bin sehr gespannt darauf, was ich hiervon eventuell auf meine tägliche Arbeit übertragen kann!“, so Wolfgang Müllges.

Und mit der Wahl dieses zweiten Exkurses zum Thema Angst im Präsidentensymposium hat er an diesem Vormittag ein ausgesprochen gutes Händchen bewiesen. Und so dankten es die Zuhörer im vollbesetzten Franconia Saal mit herzlichem Applaus, Einblick in das Erleben einer Berufsgruppe erhalten zu haben, die nur auf den ersten Blick so ganz verschieden scheint von der Welt der Neurointensivmediziner: in das der Polizei. Referentin war Ev Kunz, 42 Jahre jung, seit 22 Jahren im Polizeidienst und eine seltene Ausnahme von weiblicher Führungskraft bei der sächsischen Landespolizei. Zunächst, verriet Kunz, habe ihre Recherche nach Angst bei der Polizei zu nichts geführt. In einer Behörde, in der alles verschriftet und gut dokumentiert werde, sei nichts über das Thema zu finden. Auch die persönliche Nachfrage bei den Kollegen habe spontan nichts anderes erbracht: „Angst? Haben wir nicht. – Oberflächlich betrachtet mag das stimmen“, sagte Kunz und spielte auf Bruce Willis als vermeintlichen Prototypen an: „unerschrocken im Alleingang gegen das Böse und sieht dabei auch noch cool aus“. Und tatsächlich seien die Kollegen im SEK „irgendwie anders“, suchten ihre Grenzen in Extremsport, Ironman, Freeclimbing … „Sind wir vielleicht außergewöhnliche Menschen in einem normalen Beruf?“, fragte Kunz. Natürlich ist es andersherum, wie die Leipziger Polizistin anschaulich nahezubringen verstand. Fallbeispiele aus eigener Erfahrung oder ein Video von Gewaltausschreitungen gegen Einsatzkräfte beim G20-Gipfel in Hamburg zeigten Menschen in Uniformen in außergewöhnlichen und immer wiederkehrenden Stresssituationen. Die Angst vor Gewalt und um die eigene Unversehrtheit im Berufsalltag mochte im Franconia Saal nur Ev Kunz wirklich persönlich kennen. Mit der Angst dagegen, (falsche) Entscheidungen zu treffen, anhand der Informationen, die man eben zur Verfügung hat, unter Zeitdruck und eingedenk möglicher Folgen des eigenen Handels war im Auditorium mit Sicherheit jeder vertraut.