S. E. Vermeer, W. T. Longstreth Jr et al.
In: Lancet Neurol 2007; 6: 611-19.

 

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA 08


Bewertung: ***





Zielstellung:

Untersucht wurde, welche klinische Bedeutung zufällig entdeckten ischämischen Läsionen in zerebraler Bildgebung bei Patienten ohne vorausgegangene Geschichte eines Schlaganfalls zukommt. Darüber hinaus sollten Risikofaktoren für das Entstehen solcher Läsionen identifiziert werden.

Design:

Medline-Analyse von 1966-2006 unter den Stichworten "silent brain infarcts", "silent cerebral infarction", "silent ischaemic lesions" sowie "silent lacunes".

Wichtige Resultate:

Insgesamt wurden 313 Artikel identifiziert. Die Referenzlisten wurden ebenfalls durchsucht und hierbei weitere 34 Artikel gefunden, welche in die Bewertung einbezogen wurden. Anschließend wurden die Publikationen, welche sich ausschließlich auf postmortem-Untersuchungen bezogen oder keine MRT-Daten enthielten, ausgeschlossen. Auch Nicht-Original-Artikel wurden excludiert. Zur Analyse wurden somit 105 Arbeiten herangezogen. Die Daten wurden deskriptiv ausgewertet, eine Meta-Analyse wurde nicht vorgenommen.
Strukturell wurden Läsionen >3mm in den meisten der einbezogene Studien als verwertbar angesehen, um Verwechslungen mit Virchow-Robin-Räumen auszuschließen. Im Vergleich zu neuropathologischen Untersuchungen wird auf die bildgebend geringere Sensitivität in der Aufdeckung cortikaler Mikroinfarkte hingewiesen. Ausgeschlossen wurden Läsionen im Anschluss an TIA’s und "Stroke-like episodes", welche retrospektiv in Zusammenhang mit dem klinischen schlaganfallähnlichen Syndrom zu bringen waren.
Die Häufigkeit von "silent brain infarcts" in der Allgemeinbevölkerung wird in 8 ausgewerteten populationsbasierten Studien in älteren Kollektiven mit 8-28% angegeben. Auf Unterschiede in den Populationen, den Untersuchungstechniken und der Infarktdefinition wird hingewiesen. Die Prävalenz steigt mit dem Alter und ist bis zu 5-fach höher als die Schlaganfallprävalenz. Bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen (7 Studien) ist die Prävalenz bei 23-57% anzusiedeln, bei Demenzpatienten in 33% sowie bei Patienten mit Depression in 46%. Die Inzidenz wurde bei ca. 3% pro Jahr in populationsbasierten Untersuchungen älterer Patienten mit vaskulären Erkrankungen gesehen, jedoch bei ca. 19% der Patienten mit vorausgegangener TIA. Als wichtigste Risikofaktoren für einen nachfolgenden Schlaganfall werden hier männliches Geschlecht, Alter und erhöhter diastolischer Blutdruck sowie Nachweis von Infarkten bereits im ersten MRT angegeben.
Als Risikofaktoren wurden in der Allgemeinbevölkerung Alter und Arterielle Hypertonie identifiziert.
Als Konsequenzen wird erläutert, dass "silent" im Sinne von nicht-schlaganfallassoziiert gemeint ist und in detailierter klinischer Untersuchung neurologische oder neuropsychologische Defizite gefunden werden können. Daher wird der Terminus "covert" als Alternative vorgeschlagen. Das Risiko weiterer Schlaganfälle ist in der Allgemeinbevölkerung unabhängig erhöht. Postuliert wird, dass "silent brain infarcts" Endorganschädigungen anzeigen. Das Risiko dementieller Entwicklung würde hierdurch mehr als verdoppelt. Insbesondere die Entwicklung einer senilen Demenz vom Alzheimer-Typ würde auf bisher nicht geklärtem Weg erhöht.

Schlussfolgerung:

Patienten mit "silent brain infarcts" sollten als Hochrisikogruppe betrachtet werden. Die vaskulären Risikofaktoren sollten in dieser Population besonders gründlich untersucht und behandelt werden. Darüber hinaus sollte bei Patienten mit "mild cognitive impairment" mittels MRT nach "silent brain infarcts" gefahndet werden, da diese eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entstehung einer Demenz anzeigen. Bei Schlaganfall als Endpunkt jedweder Studie sollten erwogen werden, künftig serielle MRT-Untersuchungen sowie Beurteilungen der Gedächtnisfunktion in das Studienprotokoll einzuschließen.

Kommentar:

Die Häufigkeit und Relevanz klinisch nicht als Schlaganfall in Erscheinung tretender ischämischer cerebraler Läsionen ist wenig untersucht. Es ist ein Verdienst dieser Arbeit, das derzeit vorliegende Datenmaterial zu diesem Thema zusammenzufassen.
Die Schwierigkeiten beginnen allerdings bereits bei der Definition. So wird in der Schlussfolgerung betont, dass "silent" sich eben nur auf ein schlaganfallartiges Ereignis bezieht, keineswegs aber tatsächlich "klinisch stumm" bedeuten muss. Als Lösung wird daher der Terminus "covert" als Alternative vorgeschlagen.
Hinsichtlich der bildgebenden Morphologie werden keine Differenzierungen getroffen. Zwar wird Bezug genommen auf das Problem der möglichen Verwechslung lakunärer Läsionen mit perivaskulären Räumen, jedoch wird eine Trennung verschiedener Infarktmorphologien sowie potentieller Risikofaktoren nicht vorgenommen. Unkommentiert werden darüber hinaus Untersuchungen zu ischämischen Läsionen im Anschluß an vaskuläre Eingriffe mit aufgeführt. Die Ätiologie der hierbei entstandenen Läsionen ist jedoch nicht vergleichbar mit lakunären Defekten oder einer periventrikulären Leukencephalopathie. Diese Trennung wird auch bei der Beschreibung möglicher klinischer Folgen nicht durchgeführt. Milde neurologische Defizite in der klinischen Untersuchung werden neben Störungen der Exekutivfunktion und "dementiellen Erkrankungen" abgehandelt. Bei letzteren wird ein Zusammenhang zur Entstehung der Alzheimer-Demenz postuliert. Die Vermutung, dass bei diesen Patienten ein geringerer Umfang an Plaques und Tangles zur Entstehung einer klinisch relevanten Demenz erforderlich sei, lässt wohl eher den Schluss zu, dass hier ein "Overlap" vorliegt.
Auf den Zusammenhang zwischen (Art und) Lokalisation der Läsion und klinischem Bild wird nur kurz eingegangen. Hier ist eine diagnostische Unsicherheit zu erwarten, denn Änderungen beispielsweise der Exekutivfunktionen oder Gedächtnisleistungen beim Älteren werden wahrscheinlich weder vom Betroffenen noch den behandelnden Ärzten als Schlaganfallsymptom mit der Ursache einer Schädigung des anterioren und medio-dorsalen Thalamus in Verbindung gebracht.
Zusammengefaßt wird ein wichtiges Thema adressiert und die derzeit verfügbare Literatur analysiert.

(I. Schirotzek)