Stevens RD, Nyquist PA
In: Crit Care Clinics , 2006; 22: 787-804

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA 08


Bewertung: **





Zielstellung:

Review über Bewusstseinsstörungen bei Intensivpatienten aller Fachgruppen

Design:

Literaturzusammenstellung mit Diskussion ohne Präsentation von Originaldaten

Wichtige Resultate:

Die Ausprägungsmöglichkeiten von Psychosyndromen des Intensiv- und Notfallpatienten in der Akut- und Postakutphase werden hinsichtlich a) der Definition, b) der Epidemiologie, c) den Strategien im klinischen Management und d) den gegenwärtigen Vorstellungen zu Entstehung und Lokalisation der Funktionsstörung angesprochen. Weitere Punkte betreffen e) die Möglichkeiten der Erfassung mit Scoring-Systemen und f) Präventionsmaßnahmen.
Ausführlicher behandelt werden 1. das Koma in Bezug auf seine Implikationen zur Prognose, 2. das delirante Psychosyndrom im Hinblick auf seine breite Differenzialdiagnose und 3. die anhaltende kognitive Störung nach schwerer Erkrankung mit Intensivtherapie mit ihren Folgen für Lebensqualität und psychiatrische Folgeerkrankungen. Unterstrichen wird die große Bedeutung der Psychosyndrome aufgrund ihres häufiges Auftretens und ihrer prognostischen Wichtigkeit in vielen operativen und nicht-operativen Patientengruppen (Inzidenzen von 25 bis 70 %). Herausgearbeitet wird der Mangel an bewährten und geprüften Scoring-Systemen für diese Syndrome, abgesehen vom Glasgow-Coma-Score. Dargelegt wird, dass uns zur Prävention postkomatös auftretender Psychosyndrome noch aussagekräftige Studien fehlen und sich allenfalls Hypothesen einer multikausalen ZNS-Schädigung unter Beteiligung verschiedenster Transmittersysteme formulieren lassen, in die dann auch typische Risikofaktoren wie Alter, Vorschädigung, Alkoholanamnese, Schlafdeprivation, Sepsis etc. einmünden.

Schlussfolgerung:

Viele Intensivpatienten erleiden während ihres Intensivaufenthaltes Bewusstseinsstörungen, für die kein ausreichendes pathophysiologisches Verständnis besteht, die als erworbenes akutes "Organversagen Gehirn" und für die unzureichende Präventions- und Therapieinstrumente existieren.

Kommentar:

Dieser Review Artikel führt in das allgemeine Thema ein, ohne durch gelegentliche differenzierte Betrachtungen in die Tiefe zu gehen. Ein Verdienst der Autoren ist, ein unnötiges Dickicht der Syndrombezeichnungen wie "critical illness encephalopathy, ICU psychosis, brain failure" usw. anzusprechen, mit dem wir in unserem Sprachraum sicherlich auch zu kämpfen haben und das die Arbeit und Einteilung erschwert. Bis heute kann man nur mit den Autoren vermuten, dass sie alle Ausprägungsgrade einer großen Gruppe von diffusen und allgemeinen encephalopathischen Hirnschädigungen sind (Kunze 1992). Unserem im deutschsprachigen Raum verbreiteten Konzept von quantitativer und qualitativer Bewusstseinsstörung scheint die hier angesprochene Dichtomie von "arousal or wakefulness" und "awareness or content of consciousness" ähnlich.
Neuere differenzierte Betrachtungen zu konkreteren Alterationen der Neurotransmission mit praktischem Belang wie etwa beim anticholinergen Syndrom oder dem Alkoholentzugssyndrom lassen die Autoren beiseite, auch typische diagnostische Fallstricke bei der Einschätzung dieser Komplikation Bewusstseinsstörung des ICU-Patienten.
Wer hier übersichtliche Tabellen oder Schemata sucht, die die praktische Arbeit unterstützen würden, liegt leider falsch - für einen Einstieg in das Thema ist die Lektüre dieses reviews jedoch durchaus zu empfehlen. Gemessen an anderen übersichtlicheren Arbeiten (s.u.) zeigt dieser review auf, dass in den letztem 24 Monaten nicht viel Neues dazu kann und wir von einem systematisierten Zugang zu organischen Psychosyndromen beim Intensivpatienten noch ein gutes Stück weit entfernt sind.

(H.-C. Hansen)