B. de Jonghe, J.-C. Lacherade, M.-C. Durand, T. Sharshar                                                                                                                                     In: Critical Care Clinics (2006). Volume: 22, Issue: 2, Pages: 55-69


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA 08


Bewertung: ***/****





Zielstellung:

Ziel der Arbeit ist die Darstellung des klinischen Bildes, der Ursachen und möglicher präventiver Maßnahmen neuromuskulärer Syndrome auf der Intensivstation.

Design:

Review-Arbeit

Wichtige Resultate:

Die Autoren beschreiben zunächst die klinische Symptomatik generalisierter erworbener Schwächen auf der Intensivstation. In getrennten Absätzen unterscheiden sie dabei klar zwischen Schwächen der Extremitäten- und der respiratorischen Muskulatur. Entsprechend ihrer bisherigen Gepflogenheiten verzichten sie dabei, wie bisher schon eine Reihe anderer Autoren, auf eine primäre Unterscheidung von Neuropathie und Myopathie und subsumieren das klinische Bild unter dem Begriff "Critical Illness Neuromuscular Syndromes", bzw. "Critical Illness Neuromyopathie". Neben der klinischen Symptomatik stellen die Autoren die elektrophysiologische Diagnostik dar und geben Daten zur Häufigkeit erworbener neuromuskulärer Symptome auf der ICU.
In einem weiteren Abschnitt werden die Risikofaktoren einer Critical-illness-Neuromyopathie diskutiert. Ausführlich werden dabei die vorhandenen Daten zum Einfluß von Corticosteroiden, der Hyperglykämie sowie von Muskelrelaxantien erörtert. Kritisch wird dabei angemerkt, daß bisher alle Studien lediglich den Einfluß dieser Faktoren auf die Extremitätenmuskulatur untersuchten. Studien zum Einfluß auf die respiratorische Muskulatur fehlen.
Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit dem Einfluß der Sepsis und ihrer Mediatoren auf die Entstehung von Neuropathie und Myopathie. Abschließend setzen sich die Autoren mit der derzeit wichtigsten Präventionsmaßnahme, der intensivierten Insulintherapie auseinander. Diese zeigte in einer relativ homogenen Population von überwiegend kardiochirurgischen Intensivpatienten einen positiven Effekt auf Sepsismortalität und -morbidität, in dessen Folge die Inzidenz der Critical illness-PNP um 44 % zurückging (van den Berghe et al., NEJM 2001). Bei einer sehr heterogenen Population internistischer Intensivpatienten konnte die gleiche Arbeitsgruppe zunächst keinen vergleichbaren Effekt nachweisen (dgl., NEJM 2006), in der Subanalyse der Patienten, die 7 Tage und länger auf der ICU behandelt wurden, senkte die intensivierte Insulintherapie die Inzidenz von Critical illness- Neuropathie und Myopathie von 50,5% auf 38,5% (Hermanns et al., AJRCCM 2007).

Kommentar:

In dieser Arbeit werden die wichtigsten Aspekte von Critical-illness-Polyneuropathie und Myopathie anhand der vorliegenden Studien dargestellt und kritisch gewürdigt. Da sich die Autoren seit über 10 Jahren mit der Problematik beschäftigen und als Mitglieder der Groupe-de-Reflexion-et-d'Etude-des-Neuromyopathies-en-Reanimation maßgebliche Studien in renommierten Zeitschriften veröffentlicht haben, sind sie als uneingeschränkt kompetent und erfahren anzusehen. Wie schon erwähnt, unterscheiden sie primär nicht zwischen Neuropathie und Myopathie, sondern gehen vom klinischen Bild der neuromuskulären Schwäche aus, zählen also zu den sogenannten lumpers. Obwohl dies aus theoretischer Sicht nicht ideal ist und viele Fragen hinsichtlich differenzierter Pathogenese und spezifischer Einflußfaktoren offen lässt, hat sich dieser Ansatz bei einer Reihe von Autoren durchgesetzt, da er den Bedürfnissen einer einfachen Diagnostik, insbesondere auf nicht-neurologischen Intensivstationen, entgegenkommt. Darüber hinaus ist es auch bei den Befürwortern einer strikten Trennung zwischen Neuropathie und Myopathie anerkannt, dass die Unterscheidung auch mit guter Elektrophysiologie schwierig ist und streng genommen immer eine Muskelbiopsie voraussetzt, die in der klinischen Praxis nur selten vorgenommen wird.
Den Autoren gelingt mit dieser Arbeit eine umfassende Übersicht über die aktuell verfügbaren Daten hinsichtlich klinischer Symptomatik, Pathogenese, Risikofaktoren und möglicher Behandlung neuromuskulärer Schwächen auf der Intensivstation. Erfreulicherweise beschränken sich die Autoren nicht nur auf Paresen der Extremitätenmuskulatur, sondern gehen auch der Frage nach, inwieweit die respiratorische Muskulatur betroffen ist. Dies ist insofern sinnvoll, da keineswegs geklärt ist, inwieweit die neurologische Diagnose einer Polyneuropathie oder Myopathie auch etwas über die Funktion des Zwerchfells sagt.
Die derzeit für viele Intensivmediziner entscheidende Frage, inwieweit sich mit der intensivierten Insulintherapie neuromuskuläre Komplikationen verhindern lassen, ist nach wie vor unbeantwortet. Es ist de Jonghe et al. daher uneingeschränkt zuzustimmen, daß weitere Studien zum Effekt intensivierten Insulintherapie insbesondere bei internistischen Patienten dringlich erforderlich sind. Daß solche Studien noch nicht vorliegen, liegt ganz wesentlich daran, daß die strikte Blutzuckerkontrolle bei Intensivpatienten ein aufwendiges Monitoring erfordert und dennoch bei vielen Patienten nicht realisierbar ist. Hierauf weisen die Autoren selbst mit einer kürzlich veröffentlichten Studie hin (Lacherade et al., ICM 2007). In einem Editorial gibt de Jonghe einen detaillierten Überblick über den derzeitigen Kenntnisstand und die aktuellen Studien zum Zusammenhang von intensivierter Insulintherapie und Critical illness-Neuromyopathie (AJRCCM 2007), der über den hier vorgestellten Review-Artikel hinausgeht und daher allen, die an dieser Problematik interessiert sind, als ergänzende Lektüre zu empfehlen ist.
Entsprechend ihrem Ansatz liefert die Übersichtsarbeit von de Jonghe et al. eine Vielzahl von Daten zu den o.g. Aspekten. Sie ist daher weniger als Bedside-Hilfe für diejenigen geeignet, die sich erstmals und schnell über das Krankheitsbild informieren wollen. Vielmehr wendet sie sich an diejenigen Intensivkollegen, die sich schon länger mit dem Krankheitsbild beschäftigen und sich einen konzisen und detaillierten Überblick über das Krankheitsbild oder bestimmte Teilaspekte verschaffen wollen. Zur aktuellen Situation hinsichtlich der intensivierten Insulintherapie sei auf das Editorial des gleichen Autors im Märzheft des AJRCCM verwiesen.


(E. Hund)