Tang Z et al.
In: Critical Care Medicine 2007; 35:2057-2063

 

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA 08


Bewertung: **





Zielstellung:

Es sollten die Arbeitsabläufe auf "tele-intensivmedizinisch" fernversorgten Intensivstationen mittels einer beschreibenden "time-and-motion-Beobachtungsstudie" betrachtet werden.

Design:

Es wurde eine telemedizinische Zentrale und ausgewählte Ärzte und Schwestern in den Satelliten-ICU´s betrachtet. Dabei wurden 132 Intensivbetten in 9 Intensivstationen unter Zuhilfenahme elektronischer datenbasierter Entscheidungssysteme "fernbetreut". Das zufällig ausgewählte und beobachtete Personal in den Satelliten-ICU´s bestand aus 6 Ärzten und 7 Schwestern, deren Arbeitsabläufe zwischen 39 und 47 Stunden studiert wurden. Der Arbeitsablauf wurde im Hinblick die zeitliche Beanspruchung durch verschiedene Aufgaben und Verrichtungen untersucht, wobei als zusätzliche Variablen auch die Häufigkeit von Hinzuziehung von Informationsressourcen, sowie die Häufigkeit und das Management von Unterbrechungen im Arbeitsablauf durch das "Monitoring-System" beurteilt wurden. Seitens der Zentrale bestand Zugriff auf alle patientenrelevanten Daten und Parameter sowie die Möglichkeit zur Videokonferenz mit den beteiligten Behandlern.

Wichtige Resultate:

Die beobachteten Ärzte verbrachten 70% ihrer Zeit mit Überwachung / Versorgung des Patienten, 3% der Zeit mit interaktiver Zusammenarbeit, 3% mit der Aufrechterhaltung des Monitoring-Systems und 24% mit administrativen Tätigkeiten im weitesten Sinne. Die entsprechenden Zeiten für die Krankenschwestern lagen bei 46%, 3%, 4% und 17%. Zusätzlich fielen bei den Schwestern 24% der Zeit für Krankenakten-Dokumentation an. In der Publikation werden detailliert verschiedene Unterbrechungsszenarien mit ihren Problemen beschrieben, die hier nicht im Detail wiedergegeben werden können.

Schlussfolgerung:

Die Autoren schlussfolgern, dass die fernbetreute Intensivmedizin Auswirkungen auf die Arbeitsabläufe auf den Intensivstationen hat. Welche Bedeutung diese beschriebenen "Auswirkungen" haben, wird nicht erwähnt.

Kommentar:

Was will man an einer beschreibenden Studie schon kommentieren, wenn nicht ihre "ideologisch-strategische" Bedeutung im Sinne eines Indikators für bevorstehende organisatorische Umstrukturierungen der flächendeckenden Intensivmedizin. Über die Vor- und Nachteile der zunehmend praktizierten Zusammenlegung von Intensivbetten unter denen gerade kleinere Intensivfächer mit spezifischen Inhalten - wie die Intensivneurologie - leiden, ist hinlänglich diskutiert worden. Hier geht es um die nächste Stufe: wahrscheinlich liegt es ja im Trend, dass man nach Teleradiologie, Telepathologie, Telestroke nun auch Tele-Intensivmedizin betreiben will. Da winkt nicht (nur) der Zeitgeist, sondern der "Marktmechanismus" der Kostenersparnis bei spezialisierter Medizin - manchmal auch ein Kompetenzproblem "in der Fläche" oder ein Besetzungsproblem mit entsprechend kompetenten Spezialisten. "Big ICU-Brother is watching and supporting you!" so lautet das Motto zukünftiger Organisation flächendeckender Intensivstationen mit dem absehbaren Ende solcher Exotica wie "Neuo-Intensivstationen". Da kann man dann einfach einen "Neuro-Experten" von sonstwoher telemedizinisch zuschalten, der dem verdutzen Vor-Ort-Team mal erklärt, was ein apfelgroßes Hämatom im Hirn so alles für Probleme machten kann.
Was will uns diese Studie nun zu diesem Thema sagen: (1) "Irgendwie" funktioniert von außen durch Spezialisten telemedizinisch und mit elektronisch-basiertem Expertensystem praktizierte Intensivmedizin, wenn vor Ort eine solche nicht (mehr) vorhanden ist (2) Die Arbeitsabläufe auf einer "fernbetreuten" Intensivstation sind auch nicht mehr so, wie wenn man diese unabhängig betreut. Das hätten wir uns auch ohne diese Studie gedacht. Es wäre blauäugig zu glauben, dass solche Entwicklungen nur als Überbrückung eines vorübergehenden Mangels an kompetentem Intensivpersonals in peripheren Krankenhäusern gedacht sind, sondern sie werden als ökonomisch attraktive Modelle rasch propagiert werden. Sicher gibt es eine kritische Grenze nach unten an Krankenhausgröße / Bettenzahl, ab der ein Intensivbetrieb keinen Sinn macht. Ob diese Situation in strukturschwachen Regionen mittels Tele-Intensivmedizin verbessert werden kann, bleibt nachzuweisen. Eine voranschreitende Tele-ICU-Zentrierung wirft auch die Frage auf, wo denn eigentlich kompetentes Intensivpersonal noch ausgebildet werden soll, wenn es keine flächendeckende Intensiv-Kompetenz mehr gibt. Nach meiner Einschätzung wird die klassische Spirale einer "self-fulfilling prophecy" angeworfen: wenig ausgebildetes Personal => intensivmedizinische Tele-Fernbetreuung => weniger Ausbildungsstätten => noch weniger ausgebildetes Personal => noch stärkere Zentrierung der intensivmedizinischen Fernbetreuung => usw.
Man kann Prozesse im Krankenhaus immer mehr arbeitsteilig nach unten "durchdelegieren" oder "outsourcen"; ob eine solche "Industrialisierung" der Diagnostik- und Therapieprozesse einem kranken Menschen gerecht wird, muss bezweifelt werden. Solche arbeitsteiligen Kompetenzaufsplitterungen mögen im einen oder anderen Fall sinnvoll und kosteneffektiv sein, sie neigen jedoch zu einer Metastasierung in Kernthemen der Arzt-Patient-Beziehung hinein. Fragen der Therapielimitierung werden in Zukunft im konkreten Fall wahrscheinlich telemedizinisch mit einem zentralen "Ethik-Kompetenz-Center" besprochen. Der nächste Schritt ist dann ein von der Zentrale eingespieltes "Trost-Tonband" mit Meditationsmusik für Angehörige sterbender Patienten.
Es mag etwas antiquiert und sozialromantisch klingen: angesichts solcher Publikationen hoffe ich nur, dass die Anhebung der Lebensarbeitszeit nicht so weit voranschreitet, dass ich ein solches Szenario auf "meiner" Intensivstation dann noch miterleben müsste.

(F. J. Erbguth)