Akinnusi ME, Pineda LA, El Solh AA
In: Crit Care Med; 2008; 33: 1-8

 

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA_1-2010


Bewertung: **





Zielstellung:

Diese Meta-Analyse untersuchte den Zusammenhang zwischen Body-Mass-Index (BMI) - definierter Adipositas von Intensivpatienten und Mortalität, Beatmungsdauer und Dauer des Aufenthalts auf der Intensivstation (ICU).

Design:

Meta-Analyse deskriptiver Parameter und des Outcomes in Bezug auf Mortalität (primäres Ergebnis), Beatmungsdauer und ICU-Aufenthaltsdauer (sekundäre Ergebnisse) für adipöse (BMI 30 kg/m2 oder höher) bzw. nicht-adipöse (BMI unter 30 kg/m2) Intensivpatienten. Grundlage waren letztlich 14 Studien (7 prospektiv, 7 retrospektiv) an insgesamt 62.045 Patienten (davon 15.347 (= 25%) adipös) von medizinischen, chirurgischen oder gemischten Intensivstationen. Die Studien wurden anhand einer umfangreichen Recherche aller gängigen medizinschen Datenbasen und vordefinierten Einschlusskriterien von zwei unabhängigen Untersuchern ausgewählt. Bei der Analyse der gepoolten Studienergebnisse kamen gängige statistische Modelle zur Anwendung (Zufall-Effekt-Modell nach DerSimonian / Laird, I2-Heterogenitätstest, Begg`s Rang-Korrelationstest, Zweiseitiger z Test für Signifikanz).

Wichtige Resultate:

Hauptergebnis der Untersuchung ist, dass BMI-definierte Adipositas nicht mit einer erhöhten ICU-Mortalität assoziiert ist (RR 1.00; 95% CI, 0.86-1.16, p = 0.97). Allerdings zeigte sich für die sekundären Ergebnisse, dass Adipositas die Beatmungsdauer um im Mittel 1.48 Tage (95% CI, 0.07-2.89; p = 0.04) und den ICU-Aufenthalt um im Mittel 1.08 Tage (95% CI, 0.27-1.88; p = 0.009) signifikant verlängert. In einer Subgruppenanalyse fanden die Autoren darüber hinaus, dass besonders übergewichtige Patienten (BMI 40 kg/m2 oder höher) keinen Nachteil und übergewichtige Patienten mit einem BMI zwischen 30 und 39.9 kg/m2 sogar einen ICU-Überlebensvorteil (RR 0.86; 95% CI, 0.81-0.91; p < 0.001) gegenüber nicht-adipösen Patienten haben.

Schlussfolgerungen:

Die Autoren schlussfolgern, dass Adipositas bei Intensivpatienten nicht mit erhöhter Mortalität, aber mit signifikant verlängertem ICU-Aufenthalt und verlängerter Beatmungsdauer assoziiert ist. Sie diskutieren die Abwesenheit einer Adipositas-assoziierten Mortalitätszunahme, wie sie in manchen früheren Studien nahegelegt wurde, dahin gehend, dass möglicherweise die erhöhten Belastungen des adipösen Intensivpatienten (erhöhter kardiorespiratorischer Arbeitsbedarf, diabetische Stoffwechsellage, Beeinträchtigung der Substanz-Verteilung und -Entsorgung) durch protektive immunmodulatorische Eigenschaften des Fettgewebes (insbesondere durch die Adipokine Leptin und Interleukin-10) oder die außergewöhnliche therapeutische Zuwendung, die diese Patienten erführen (mehr Aufmerksamkeit, strengerer Hyperglykämie-Ausgleich, besondere Sepsis-Regimes) ausgeglichen würden. Die Verlängerung von Beatmungsdauer und Intensivaufenthalt werden von den Autoren erklärt durch die verschlechterte Mechanik des Atemapparats (v.a. der Brustwand) und des erhöhten Sauerstoffverbrauchs allein für die Atemarbeit bei Adipösen. Die Autoren schließen mit dem Ruf nach Interventionsstudien für die Gruppe der adipösen Patienten, die untersuchen sollen, wie der mit den o.g. sekundären Ergebnissen verbundene Ressourcenverbrauch gesenkt werden kann.

Kommentar:

Dies ist die aktuell größte Vergleichsarbeit zu einem Thema, für das bisher trotz einer recht hohen Anzahl an relevanten Studien (> 25) eine kontroverse Datenlage bestand. Diese Meta-Analyse ist eine gut strukturierte, solide und methodisch weitgehend einwandfreie Untersuchung mit klaren Ergebnissen, deren Interpretation durch die Autoren jedoch zu wünschen übrig läßt und die unsere tägliche Arbeit auf der Intensivstation vermutlich kaum verändern wird. Zunächst ist die Hauptaussage, dass Adipositas die Mortalität des Intensivpatienten nicht erhöht, schon deshalb vorsichtig aufzunehmen, weil die Daten der über 60.000 Patienten aus 14 Studien zum größten Teil (über 48.000 Patienten) aus einer einzigen retrospektiven Studie stammen. Auf das Gewicht und die Besonderheiten jener Studie hätte in der Diskussion eingegangen werden müssen. Des Weiteren scheinen sich die Ergebnisse v.a. auf Traumapatienten zu beziehen: Nur etwa 3000 Patienten lagen auf einer rein medizinischen Intensivstation, etwa 5000 dagegen auf einer chirurgischen oder Trauma-Intensivstation und der Rest auf gemischten Intensivstationen, für die unklar bleibt, wie die Verteilung medizinisch / chirurgisch aussah, aber es kann von einer Mehrheit an chirurgischen Patienten ausgegangen werden. Ob das Hauptergebnis somit z.B. auf eine Neurologische Intensivstation übertragbar ist, bleibt fraglich.
Was bedeuten die Studienergebnisse für die tägliche Arbeit auf der Intensivstation und das Patientenmanagement? Man mag überrascht sein, dass adipöse Patienten keine erhöhte Mortalität aufweisen sollen, sind doch jedem Intensivisten die täglichen Probleme und Komplikationsträchtigkeiten bei adipösen Intensivpatienten gut bekannt (z.B. Schlaf-Apnoe-Syndrom, erhöhte Aspirationsgefahr, erschwerte Intubation, erschwerte Beatmung, erschwerte Katheteranlage, aufwändigere Pflege und Hygiene, Umverteilung und verzögerte Eliminierung von Analgosedativa, Hyperglykämie, erschwerte Diagnostik usw.). So verwundert nicht, dass diese Patienten länger beatmet werden und auf der Intensivstation verbleiben, mancher hätte vielleicht eher noch größere Verzögerungen als 1-2 Tage erwartet. Die Mutmaßung der Autoren über eine ausgleichende Rolle der protektiven immunmodulatorischen Adipokine Leptin und Interleukin-10 und die Verknüpfung mit den angegebenen experimentellen Daten ist sehr interessant, es wird aber nicht die Notwendigkeit einer wissenschaftlich-klinischen Überprüfung oder eine denkbare klinische Konsequenz daraus abgeleitet. Die Annahme, dass adipöse Patienten mehr Zuwendung und eine besonders konsequente Anwendung von Protokollen erführen, wirkt eher konstruiert. Die Autoren leiten aus ihren Ergebnissen bis auf einen nebulös formulierten Ruf nach Interventionsstudien zur Senkung des Ressourcenverbrauchs keine klinischen Implikationen ab. Ernährung des Intensivpatienten wird z.B. mit keinem Wort erwähnt. Ob sich aus den vorliegenden Daten ableiten lässt, dass z.B. Patienten mit einem BMI >40 kg/m2 hungern sollten bzw. dürfen oder Patienten mit einem BMI von unter 25 kg/m2 höherkalorisch oder anders als üblich ernährt werden sollten, ist sehr fraglich. Dass Patienten mit BMI zwischen 30 und 40 Kg/m2 einen Überlebensvorteil zu haben scheinen, mag beruhigen, dass sie länger zu beatmen sind, mag stören, beides entzieht sich aber weitgehend unserer Einflussnahme. Wir werden auch nach dieser Meta-Analyse den Kalorienbedarf unserer Intensivpatienten je nach Stoffwechsel- und Sepsislage zu decken versuchen und alles daran setzen, den individuellen Patienten so kurz wie möglich und so lang wie nötig zu beatmen.

(Bösel, Julian, Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Neurologische Notfallambulanz, Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg)