Rajat Dhar, Larry Stitt, Angelika F. Hahn                                                                                                                                                               In: Journal of the Neurological Sciences 2008; 264: 121-128

 

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA_1-2010


Bewertung: ****





Zielstellung:

In der vorgelegten Studie der Arbeitsgruppe aus St. Louis sollte anhand der retrospektiven Analyse von Krankengeschichten der Frage nachgegangen werden, welche Praediktoren für einen langwierigen und ggf. negativen Verlauf es bei Guillain-Barré-Syndrom gibt. Dafür wurden die Aktenunterlagen von insgesamt 76 erwachsenen Patienten, die in den letzten 20 Jahren zu dem regionalen Versorgungszentrum überwiesen wurden, analysiert. Die Analyse erstreckte sich dabei allein auf Patienten mit einem Guillain-Barré-Syndrom, die im Verlauf ihrer Erkrankung auf der Intensivstation des Zentrums behandelt werden mussten. Analysiert wurden dabei die demographischen Daten der Patienten, die Schwere der Klinik, die Dynamik, mit der sich die Klinik entwickelte, elektrophysiologische Messparameter der Nervenleitgeschwindigkeiten, sowie Dauer der mechanischen Ventilation, schwerwiegende Komplikationen, Dauer des Aufenthaltes auf der Intensivstation und letztlich klinischer Status nach bis zu 4 Jahren nach der Entlassung.

 

Wichtige Resultate:

Wesentliche Ergebnisse waren dabei, dass die Dynamik der Krankheitsentwicklung positiv korreliert war mit der Aufnahme auf eine Intensivstation sowie der Notwendigkeit einer mechanischen Ventilation. Auch waren Patienten mit schnellerem Beginn der Symptomatik signifikant länger auf der Intensivstation. Im Median erreichten die Patienten nach 8 Tagen den Höhepunkt ihrer klinischen Symptomatik. Die elektrophysiologischen Messwerte zeigten bei etwa 19% einen vorwiegenden axonalen Typus, belegt durch reduzierte Muskelaktionspotentiale, Spontanaktivität, bzw. Nicht-Auslösbarkeit der Nerven- und Muskelaktionspotentiale. 12% hatten einen gemischten Typ und 66% einen sog. demyelinisierenden Typ. Die Ausprägung der Elektrophysiologie war wiederum korreliert mit der Notwendigkeit einer mechanischen Ventilation. Darüber hinaus waren die Patienten mit einem vorwiegend axonalen Schädigungsmuster signifikant länger beatmungspflichtig als die Patienten mit einer demyelinisierenden Variante. Der häufigste Grund für die Aufnahme auf die Intensivstation war Atem-Insuffizienz, danach Gefahr der Aspiration und relativ selten autonome Instabilität. Insgesamt im weiteren Verlauf zeigte sich bei bis zu 70% eine autonome Dysfunktion.
Die Patienten blieben im Median 21 Tage auf der Intensivstation, und die mediane Zeit für die Beatmung lag bei 28 Tagen. Bedingt durch diese Aufenthalte kam es bei 2/3 der Patienten mindestens zu einer schwerwiegenden Komplikation, bei ¼ kam es zu 3 und mehr schwerwiegenden Komplikationen. Die beobachteten schwerwiegenden Komplikationen waren Pneumonie in 54%, Sepsis in 24%, schwerwiegende kardiale Dysrhythmien in 22%, diese traten vorwiegend zu Beginn der Intensivstations-Zeit auf, in 17% kam es zu Ileus-, bzw. Perforation im Bereich des Gastro-intestinal-Traktes. 9% der Patienten entwickelte eine tiefe Beinvenenthrombose und 7% eine Lungen-Embolie.
Weitere Komplikationen waren gastro-intestinale Blutung, pseudomembranöse Colitis sowie Komplikationen im Bereich eines Tracheostomas. Fast alle Patienten erhielten eine immunmodulatorische Therapie, ohne dass diese einen signifikanten Einfluss auf die Häufigkeit der Komplikationen hatte.
Das Auftreten von Komplikationen war positiv korreliert mit der Dauer des Aufenthaltes auf der Intensivstation, darüber hinaus zeigten ältere Patienten einen insgesamt schlechteren Verlauf als jüngere Patienten, als auch Patienten mit vorbestehender Co-Morbidität.
Die Mortalität war insgesamt niedrig, so verstarben 5% der Patienten auf der Intensivstation sowie 1 weiterer Patient außerhalb der Intensivstation. Bezüglich der Mortalität war ebenfalls Alter und das Auftreten einer Beatmungspflichtigkeit ein Praediktor.
Der klinische Verlauf der überlebenden Patienten wurden im Mittel über 3 Jahre nachverfolgt, wobei sich für 75% ein gutes Outcome, gemessen an einer freien Gehstrecke von mindestens 5 Metern fand. Nur 3 von 26 Patienten, die noch 4 Jahre nach der Entlassung evaluiert wurden, waren zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, zu gehen. Patienten mit einem mehr fulminanten Verlauf der Erkrankung hatten insgesamt einen schlechteren Verlauf, darüber hinaus auch Patienten mit einem höheren Alter und einer klinisch relevanten Co-Morbidität. Die verschiedenen Therapieformen hatten keinen Einfluss.

 

Schlussfolgerungen:

Die Autoren kommen zu der Schlussfolgerung, dass obwohl Patienten mit einem GBS während eines protrahierten Aufenthaltes auf einer Intensivstation häufig Komplikationen erleiden, insbesondere, wenn eine Beatmung notwendig wird, ist der Langzeit-Verlauf in der Mehrzahl der Patienten günstig. Ein primär axonaler Schädigungs-Typ weist auf einen vermutlich längeren Aufenthalt auf der Intensivstation hin, schließt aber eine gute funktionale Erholung nicht aus.


Kommentar:

Die Stärken der Arbeit liegen darin, dass doch eine recht große Gruppe von Patienten, die auf einer Intensivstation wegen eines Guillain-Barré-Syndroms behandelt werden mussten, analysiert werden konnte. Darüber hinaus wurden die Verläufe zum Teil über 4 Jahre lang dokumentiert, so dass auch eine Erholung, die noch später als 1 Jahr nach Entlassung auftrat, dokumentiert wurde. Bedingt durch den langen Zeitraum von über 20 Jahren, in dem die Patienten in diesem regionalen Center betreut wurden, ergibt sich aber sicher das Problem, dass die therapeutischen Standards in dieser Zeit sich geändert haben, dieser Einfluß wird in der Arbeit nicht diskutiert, es wird kein Vergleich der Verläufe für die ersten und die zweiten Zehnjahre des Studienzeitraumes gemacht. Darüber hinaus wird nicht klar, zu welchem Zeitpunkt der Erkrankung mit einer immunmodulatorischen Therapie begonnen wurde, und ob ein früherer Beginn der Therapie zu einer Veränderung und Verbesserung des Outcomes führt. Bezüglich der Auflistung der möglichen Komplikationen wird wohl auf das Auftreten von Schmerzen eingegangen, welches bei fast allen Patienten gesehen wurde, es wird aber nichts zu den Therapieerfolgen und dem therapeutischen Vorgehen geäußert, darüber hinaus wird zu psychisch-psychiatrischen Symptomen der Patienten, z.B. Halluzinosen oder Albträume, wie sie bei Guillain-Barré-Syndrom nicht selten zu beobachten sind, keine Äußerung gemacht. Des Weiteren bleibt das Vorgehen bei kardialen Dysrhythmien unklar, ob regelhaft temporäre Schrittmacher gelegt wurden, wird nicht dargestellt. Bezüglich der Aussagekraft der elektrophysiologischen Testung, bezüglich des klinischen Verlaufes, stehen die Ergebnisse der Studie in partiellem Gegensatz zu Ergebnissen einer Studie aus Frankreich (Durand MC et al., Eur J Neurol. 2003 Jan;10(1):39-44), die gerade fanden, dass Patienten mit einer primär demyelinisierenden Verlaufsform des GBS häufiger eine endotracheale Beatmung benötigen als Patienten mit einer axonalen Verlaufsform, wobei hier angemerkt sein soll, dass unser persönlicher Eindruck den Ergebnissen der Gruppe aus St. Louis entspricht. Bezüglich der anderen wesentlichen Outcome-Praediktoren Alter des Patienten sowie begleitender Co-Morbidität besteht sowohl in der Literatur als auch in der klinischen Erfahrung Konsens und dieses Ergebnis überrascht nicht.
Als Resümee kann festgehalten werden, dass die Arbeit einen schönen Überblick über mögliche Praediktoren des Verlaufes eines Guillain-Barré-Syndroms sowie die zu erwartenden Aufenthaltszeiträume auf der Intensivstation bezüglich der notwendigen Beatmungszeiten gibt.

(Straube, Andreas, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität, Klinikum Großhadern, Neurologische Klinik, Marchioninistr. 15, 81377 München)