Stevens RD, Dowdy DW, Michaels RK, Mendez-Tellez PA, Pronovost PJ, Needham DM
In: Intensive Care Med (2007) 33:1876-1891


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

Nima09


Bewertung: ***





 

Zielstellung:

Bestimmung von Prävalenz, Risikofaktoren und Outcome neuromuskulärer Erkrankungen bei kritisch-kranken Patienten.


Design:

Systematisches Review verschiedener Datenbanken.

Wichtige Resultate:

Identifiziert wurden 24 Studien mit insgesamt 1421 Patienten, alle hatten entsprechend der Einschlusskriterien eine Sepsis, ein Multiorganversagen oder eine verlängerte Beatmungsdauer. Bei 655 Patienten (46%) wurde eine neuromuskuläre Erkrankung diagnostiziert. Das Risiko für eine solche Komplikation war assoziiert mit Hyperglykämie, dem Auftreten einer systemischen Entzündungsreaktion, Sepsis, Multiorganversagen, der Notwendigkeit von Nierenersatzverfahren und Katecholaminpflichtigkeit. Kein konsistenter Einfluss wurde gefunden für die Faktoren Alter, Geschlecht, Einsatz von Glucocorticoiden, neuromuskulären Blockern, Aminoglykosiden oder Midazolam. Die Beatmungsdauer und Zahl der Krankenhaustage waren erhöht, kein einheitlicher Einfluss konnte für die Mortalität gefunden werden.

Schlussfolgerungen:

Neuromuskuläre Erkrankungen sind eine häufige Komplikation bei kritisch-kranken Patienten mit Beatmung, Sepsis oder Multiorganversagen (ca. 50%). Neuere Daten liegen nahe, dass das Risiko mit steigendem Blutzuckerspielgel größer wird. Umgekehrt verringert eine intensive Blutzuckerkontrolle das Risiko für das Auftreten neuromuskulärer Komplikationen.

Kommentar:

Es handelt sich um ein sorgfältig gemachtes systematisches Review von Arbeiten, die das Auftreten neuromuskulärer Komplikationen bei Intensivpatienten klinisch und elektrophysiologisch untersuchten. Aufgrund der großen Zahl verwendeter Suchworte wurden aus den ursprünglich über 9000 Nachweisen schließlich 29 Arbeiten ausgewählt, die den Einschlusskriterien genügten. Selbst bei diesen relativ wenigen Arbeiten waren die diagnostischen Kriterien einer neuromuskulären Komplikation uneinheitlich, und nur einige wenige dieser Arbeiten differenzierten zwischen Polyneuropathie, Myopathie oder überlappenden Syndromen. Die Mehrzahl der Arbeiten umging die Schwierigkeiten der Differenzierung und verwendete einen der modischen Sammelbegriffe "critical illness neuromyopathie", "ICU-acquired paresis", "critical illness neuropathy" oder "critical illness neuromuscular abnormalities".

Die methodischen Differenzen zwischen den einzelnen Studien, die bis heute ihre Vergleichbarkeit erschweren, können dem vorliegenden Review natürlich nicht angelastet werden. Vielmehr ist es gerade den Autoren anzurechnen, dass sie sich der Mühe unterzogen haben, diese Unterschiede zwischen den einzelnen Serien herausgearbeitet zu haben. Das Review ist daher nichts für die schnelle Lektüre, bietet aber denjenigen, die die vorliegenden Studien fundiert vergleichen und bewerten möchten, eine rasche und übersichtliche Hilfe an. Über die methodischen Unterschiede der heute verfügbaren Arbeiten hinweg kann man sagen, dass mit neuromuskulären Komplikationen bei etwa 50% der beatmeten und septischen Patienten zu rechnen ist. Ein Haupteinflussfaktor scheint dabei die Blutglucose zu sein, während Aminoglykoside, neuromuskuläre Blocker oder Glycocorticoide offenbar keine Rolle in der Entstehung neuromuskulärer Komplikationen spielen. Dies deckt sich im wesentlichen mit dem, was andere Reviewer schon festgestellt haben. Der besondere Wert dieser Arbeit ist es, dies noch einmal sehr exakt für die aussagekräftigsten der bisher vorliegenden Studien herausgearbeitet zu haben.


(Hund, Ernst, Prof. Dr., Universitätsklinikum Heidelberg, Neurologische Klinik, Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg)