Broessner G, Helbok R, Lackner P, et al. 

In: Crit Care Med 2007; 35: 2025-30

 

BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA 2009


Bewertung: ****





Zielstellung:

Erhebung von Mortalität und funktioneller Langzeitprognose sowie deren Prädiktoren im Patientenkollektiv der 10-Betten-Neuro-Intensivstation an der Innsbrucker Universitätsklinik


Design:

retrospektive Kohortenbeschreibung 2002-2005 (n=1155; 41% weiblich; mittleres Alter 55 Jahre, 62% älter als 55 Jahre) anhand der Krankengeschichten und telefonische Nachbefragung nach 2,7 + 0,97 Jahren.


Wichtige Resultate:

Die häufigsten Diagnosen waren Hirnblutung (20%), Hirntrauma (19%), Subarachnoidalblutung (16%), maligner/komplizierter ischämischer Insult (15%), Meningoenzephalitis (7%) und Status epilepticus (6%). Die übrigen 17% (n=199 Fälle) verteilten sich auf zahlreiche verschiedene neurologische Diagnosen. Die Spannbreite der Verweildauer war sehr weit (1-192 Tage), ein Drittel der Patienten blieb über eine Woche. 18% der Patienten starben auf der Intensivstation. Die Mortalität von Hirnblutung, Subarachnoidalblutung und kompliziertem/malignem Hirninfarkt lag mit jeweils 27-28% deutlich höher als bei den übrigen der häufigen Diagnosen (8%). Von den Überlebenden konnten von zwei Dritteln bei der Nachbefragung Daten erhoben werden (n=662). Etwa ein Sechstel war nach gut zwei Jahren zwischenzeitlich gestorben. Die funktionelle Langzeitprognose wurde dichotom beschrieben mit der Glasgow Outcome-Skala (GOS 1-3 = schlecht; GOS 4-5 = gut) und der modifizierten Rankin-Skala (mRS 2-6 = schlecht; mRS 0-1 = gut). Mittels logistischer Regression wurden unabhängige Prognose-Prädiktoren berechnet. Der Wesentlichste war ein höheres Lebensalter (OR für schlechte Prognose 8,5 für > 70jährige gegenüber unter 30jährigen Patienten). Der nächstrelevante Faktor war ein TISS-28-Wert über 40 Punkten bei Aufnahme auf Intensivstation als Maßstab des Betreuungsaufwands (OR 4 für schlechte Prognose), der auch stark prädiktiv blieb bei Messung zum Entlassungs- bzw. Verlegungszeitpunkt von der Intensivstation. Einen vergleichsweise geringen, aber noch signifikanten Einfluss auf die Langzeitprognose hatte die Verweildauer auf der Intensivstation.


Schlussfolgerungen:

Aufnahmediagnose, Lebensalter, Betreuungsaufwand und Verweildauer sind ungünstige Prädiktoren für das langfristige Behandlungsergebnis.


Kommentar:

Diese mit schlichten Mitteln durchgeführte Erhebung bietet keine Überraschung. Das Ergebnis entspricht unseren plausiblen allgemeinen Verstellungen und liegt auf einer Linie mit den Ergebnissen der SUPPORT-Studie von Hamel, die bereits Lebensalter und Grad der Hirnschädigung, insbesondere Koma und Ausfall von Hirnstammfunktionen, nachrangig Nierenversagen als negative Prädiktoren für die Prognose intensivmedizinisch Behandelter auf nicht-traumatologischem Fachgebiet herausfand. Auch die diagnosebezogene Mortalität in der Akutphase überrascht nicht. Sie entspricht ungefähr den Ergebnissen einer multizentrischen Erhebung an vier deutschen speziellen neurologischen Intensivstationen, die in einem leider nicht von Datenbanken erfassten Journal publiziert wurden (Aktuelle Neurologie 2004; 31: 37-45). Das gilt insbesondere, wenn man die organisatorisch-strukturellen Bedingungen mit in Betracht zieht, in die die Innsbrucker Station eingebettet ist. Im Vergleich zu anderen Neuro-Intensivstationen fällt zum Beispiel die ungewöhnlich hohe Frequenz behandelter Hirntraumen und die verschwindende Anzahl neuromuskulärer Krankheiten auf. Dass im Zeitalter zusätzlich etablierter Stroke Units eine negative Selektion von Hirninfarkten mit Beschränkung auf beatmungspflichtige, evtl. trepanationsbedürftige Mediainfarkte und Basilaristhrombosen stattfindet, ist inzwischen wahrscheinlich verbreitete Realität.
Wenn denn kein Ergebnis überrascht, warum ist diese Arbeit wichtig? Weil endlich einmal hochrangig publiziert wurde, was Neuro-Intensivmedizin macht und bedeutet. Diese Arbeit hat kein vergleichbares Pendant und wird immer wieder zu zitieren sein, wenn man über Neuro-Intensiv und Prognose publizieren will. Wir Neuro-Intensivmediziner wissen um unser Tagwerk, aber andere wissen das nicht – sonst wäre diese Arbeit einem so hochkarätigen Journal auch nicht mitteilenswert erschienen. Auf Neuro-Intensiv werden Schwerkranke behandelt, ein TISS-28 über 40 Punkte (von 78 möglichen) ist ernst zu nehmen. Die konsequente Anwendung des TISS-28 auf dieser Station muss man als glücklich bezeichnen, denn ich wüsste nicht, welcher global anzuwendende Score als Maß des technischen und pflegerischen Betreuungsaufwands besser evaluiert wäre. Die unter ökonomischem Diktat im deutschen DRG-System erhobenen Pflegeaufwandspunkte und andere kostenorientierte Skalen können für die Beschreibung eines medizinischen Sachverhalts jedenfalls nicht herangezogen werden. Auch und gerade weil sich der TISS nicht überall durchgesetzt hat, finde ich es bemerkenswert, dass Critical Care Medicine die Aussagekraft des TISS ohne Literaturhinweis akzeptiert hat.
Der dargestellte Datensatz ist äußerst schlicht und lässt eine zweite wichtige Botschaft nur erahnen. Die neurologisch kranken Patienten, die die Intensivstation in funktionell schlechtem Zustand mit zu diesem Zeitpunkt überwiegend pflegeaufwandsbedingt hohem TISS-Wert verlassen, werden als Gruppe keine dramatische weitere funktionelle Verbesserung erfahren. Wir wissen bereits aus zahlreichen anderen Langzeitbeobachtungen, dass der Verweis auf eine weitere erhebliche Besserungsmöglichkeit, d.h. Bewegung auf den groben GO- und mRS-Skalen, während anschließender Rehabilitationsbehandlung eine Illusion ist, zumindest soweit es diese schwer strukturell hirngeschädigten Patienten betrifft. Selbstverständlich können kleine, für das Individuum vielleicht funktionell bedeutsame Fortschritte erzielt werden, die sich nur in empfindlicheren Skalen wie z.B. Barthel- oder FIM-Scores widerspiegeln, die in der vorgelegten Arbeit nicht erhoben wurden. Der Wert der Rehabilitationsbehandlung wird hier also nicht bestritten, aber Durchgreifendes darf man nicht erwarten.
Bedrückend ist, um wie viel ungünstiger sich die Prognose dieses Neuro-Intensiv-Patientenkollektivs bei einem Alter über 70 Jahren verglichen mit jungen Erwachsenen gestaltet. Das Problem, dass eine krude Jahreszahl nicht unbedingt das individuelle sogenannte biologische Alter widerspiegelt (das ein nicht messbares Eindrucksprodukt unserer Phantasie ist), ist bekannt und wird in der Arbeit diskutiert. Trotzdem setzt sich statistisch das Alter in Jahren immer wieder in jeder Prognosestudie durch. Ältere haben eben eine unleugbar größere Wahrscheinlichkeit von die Prognose mitbestimmenden Organdysfunktionen. Die zur Tolerierung von Intensivbehandlung notwendigen physiologischen Reserven, hier auch die für die Restauration und Rehabilitation erforderliche Plastizität des Gehirns, sind mit zunehmendem Alter zunehmend eingeschränkt. Die hier erhobenen Parameter erlauben keine weitere Aussage. Wie zutreffend angemerkt wird, ist es dennoch angemessen, bei Patienten in höherem Lebensalter während der Akutbehandlung noch schärfer als ohnehin darüber nachzudenken, welche Mittel zum Durchsetzen eines funktionell ungünstigen Behandlungsziels im Sinne des Patienten angebracht sind. Höheres und hohes Lebensalter spielt nur für den grundgesetzlich beschränkten Horizont der Juristen keine Rolle. Aber das ist eine anderweitig zu führende Diskussion, für die die vorgelegte Arbeit wieder einmal Bedenkenswertes liefert.

(Müllges, Wolfgang, PD Dr., Julius-Maximilians-Universität, Klinik für Neurologie, Josef-Schneider-Str. 11, 97080 Würzburg)