NICE SUGAR Study Investigators, Finfer S, Chittok DR, Su SY et al.
In: NEJM 2009;360:1283-1297


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

NIMA_1-2010


Bewertung: ****





„NICE SUGAR“ = „Normoglycemia in Intensive Care Evaluation – Survival Using Glucose
Algorithm Regulation“.

Zielstellung:

Die australisch-kanadische Forschergruppe ist der Frage nachgegangen, ob eine intensivierte Blutglukose-Einstellung Einfluss auf das Überleben von Intensivpatienten hat.


Design:

Von 41.171 gescreenten Patienten (Therapiestart < 24 Stunden nach Aufnahme auf die Intensivstation) konnten 6.104 in die Studie eingeschlossen werden, die von Dezember 2004 bis November 2008 durchgeführt wurde. Die Daten von insgesamt 6.022 randomisierten Patienten, aufgeteilt in zwei Gruppen, konnten nach 90 Tagen ausgewertet werden. In der Gruppe mit der intensivierten Einstellung sollte die Blutglucose möglichst zwischen 81 und 108 mg/dl (4,5-6 mmol/l) liegen. In der Vergleichsgruppe genügte es, wenn die maximale Glukosekonzentration von 180 mg/dl (10 mmol/l) nicht überschritten wurde. Der Blutglucose wurde mit intravenöser Insulingaben nach einem festgelegten Algorithmus eingestellt.


Wichtige Resultate:

Die Gruppen waren sehr homogen hinsichtlich Durchschnittsalter (60,2 Jahre), Geschlecht (36,2% Frauen), Durchschnittskörpergewicht (80,8 kg), -BMI (28 kg/m2) und dem Anteil an Diabetiker (20%), sowie zahlreichen anderen Parametern. Das Verhältnis von operativen zu nicht-operativen Intensivpatienten war ca. 1:2. Die mittlere Behandlungsdauer war 4,2 Tage. Nicht nur die Blutglukose und Insulingaben wurden dokumentiert, sondern alle Arzneimittelgaben, insbesondere Kortikosteroide. Daneben wurden u.a. Organfunktionen, maschinelle Beatmungs- und Dialyseraten erfasst.
Die Patienten der intensiv behandelten Gruppe erhielten mehr und häufiger Insulin als die konventionell betreuten Patienten. Der mittlere tägliche Glukosewert war daher in der ersten Gruppe signifikant niedriger: 115 zu 144 mg/dl oder 6,4 zu 8,0 mmol/l (p<0,001). In der intensiv behandelten Gruppe traten deutlich häufiger schwere Hypoglykämien (≤40 mg/dl) auf, bei 6,5% der Patienten (206 von 3.016) im Gegensatz zu nur 0,5% (15 von 3.014) der konventionell Behandelten (p < 0,001). Kortikosteroidgaben waren bei den intensiv therapierten Patienten aus verschiedenen Gründen ebenfalls häufiger: 34,6% zu 31,7% (p = 0,02).
Nach 90 Tagen waren 829 von 3.010 Patienten (27,5%) in der intensiv therapierten Gruppe gestorben. Von den 3.012 konventionell Behandelten starben 751 Patienten (24,9%). Somit lag die Sterblichkeit in der intensiv kontrollierten Gruppe 1,14-mal höher (p = 0,02). Auch nach Korrektur der Werte hinsichtlich Risikofaktoren war der Unterschied noch signifikant (p = 0,04).
Die intensiv Behandelte starben häufiger an Herz-Kreislauf-Versagen als die Patienten der konventionellen Gruppe: 41,6% zu 35,8% (p = 0,02). Hinsichtlich Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation, Organversagen, Dialyse, maschinelle Beatmung und Transfusionen bestand kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen. Auch bestehender Diabetes oder Zugehörigkeit zur operativen Gruppe bewirkten keine deutlichen Unterschiede in Bezug auf die Sterblichkeit.
Schlussfolgerung: Die intensivierte Blutglukose-Einstellung mit Zielwerten zwischen 81 und 108 mg/dl erhöht die Sterblichkeit von Intensivpatienten im Vergleich zur einer Einstellung auf einen Blutglukose-Zielwert von 180 mg/dl oder weniger.


Schlussfolgerungen:

Die intensivierte Blutglukose-Einstellung mit Zielwerten zwischen 81 und 108 mg/dl erhöht die Sterblichkeit von Intensivpatienten im Vergleich zur einer Einstellung auf einen Blutglukose-Zielwert von 180 mg/dl oder weniger.
wird.


Kommentar:

Die Ergebnisse dieser Studie weichen ab von den bisherigen Erkenntnissen anderer Studien für Intensivpatienten (Van Den Berghe et a. 2000 und 2006). Bei NICE SUGAR wurden die Blutzuckerwerte nach einem streng vorgegebenen computerisierten Behandlungsschema eingestellt, zudem erhielten die Patienten überwiegend enterale Nahrung, entsprechend anerkannter Ernährungsleitlinien für Intensivpatienten. Die statistische Aussagekraft der NICE SUGAR-Studie ist aufgrund der großen Fallzahlen außerordentlich hoch. Die höhere Zahl an tödlichem Herz-Kreislauf-Versagen in der intensiv behandelten Gruppe könnte durch die niedrigere Blutglukose-Konzentration und die erhöhte Rate an Hypoglykämien bedingt sein. Interessant aus der neurologischen Perspektive ist eine geringere Rate von neurologischen Todesursachen in der intensiviert behandelten Gruppe (21,7% zu 25,8%). Leider ist diese Studie, wie auch die letzte große randomisierte Studie zur Glukose-Einstellung bei Schlaganfallpatienten (Gray et al. Lancet Neurology 2007), nicht sehr hilfreich zur Beantwortung der Frage wie bei Hirngeschädigten in der Frühphase die Blutglukose eingestellt werden sollte. Zu bedenken sind insbesondere der nur geringe Zusammenhang zwischen Hirn- und Serumglukosekonzentration und die Entwicklung kritischer zerebraler Energiekrisen auch im Rahmen von moderaten Serumglukosekonzentrationen bei Schädelhirntraumapatienten (Oddo et al. 2008).
Für die klinische Praxis bleibt festzuhalten, dass eine intensivierte Insulintherapie mit Zielwerten unter 108 mg/dl vermutlich die Sterblichkeit und die Rate von schweren Hypoglykämien erhöht und damit nicht zu empfehlen ist. Der optimale Zielbereich für die Blutglukose-Einstellung bei Intensiv- und insbesondere hirngeschädigten Patienten ist weiterhin unklar und sollte in Studien mit höher selektionierten Erkrankungsgruppen (z.B. territoriale Hirninfarkte) geklärt werden.

( G. Seidel)

 

Literatur:

Van Den Berghe G et al. Intensive Insulin Therapy in Critically Ill Patients. N Engl J Med 2001;345:1359-67
Van Den Berghe G et al. Intensive Insulin Therapy in the medical ICU. N Engl J Med 2006;354:449-461
Gray et al. Glucose-potassium-insulin infusions in the management of post-stroke hyperglycaemia: the UK Glucose Insulin in Stroke Trial (GIST-UK). Lancet Neurology 2007;6:397-406
Oddo M et al. Impact of tight glycemic control on cerebral glucose metabolism after severe brain injury: a microdialysis study. Crit Care Med 2008;36:3233-3238