Giacinto JT, et al.
In: Neurology 2002;58:349-353


BEWERTUNGSSYSTEM

*****    = hervorragende Arbeit
****    = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
***    = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
**    = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
*    = erhebliche Mängel

 

nima 2-2003


Bewertung: *****





Zielstellung:

Neben den komatösen Patienten und den Patienten im permanenten vegetativen Status gibt es eine große Gruppe von schwer hirngeschädigten Patienten, die eine erhebliche Störung der Bewusstseinslage aufweisen, aber nicht den diagnostischen Kriterien der beiden anderen Gruppe entsprechen. Die Autoren-Gruppe, die eine große Anzahl von Institutionen und Fachgebiete vertritt, hat sich zum Ziel gesetzt, den klinischen Begriff des „minimally conscious state (MCS)“ exakter zu definieren.

Design:

In einem ersten Versuch wurden von mehreren Mitgliedern der Arbeitsgruppe unabhängig voneinander über MEDLINE Artikel gesucht, die die Stichwörter Koma, vegetativer Status, schwere Behinderung, langsame Besserung, Stupor, minimally conscious state oder Glasgow Coma Skale enthielten. Diese Artikel-Sammlung wurde so gefiltert, dass nur solche Artikel übrig blieben, die von Patienten mit veränderter Bewusstseinslage handelten, die jedoch nicht im vegetativen Status waren. Dieses Vorgehen bot jedoch eine völlig unzureichende Datenlage. Daher hat die Arbeitsgruppe versucht, eine exaktere Definition des MCS und insbesondere Ein- und Ausschlusskriterien zu entwickelt.

Wichtige Resultate:

Die Literatursuche musste rasch als unzureichend angesehen werden. Nach der o.g. Methode wurden insgesamt nur 260 Artikel als relevant angesehen. Nur 5 dieser Artikel unterschieden Patienten in einem permanenten vegetativen Status von Patienten mit veränderter Bewusstseinslage.
Es wurden daher auf der Basis der Übereinstimmung folgende diagnostische Kriterien entwickelt.

Definition: Der „minimally conscious state“ wird als definiert als Zustand mit schwer veränderter Bewusstseinslage, bei dem minimale, aber deutliche Verhaltensmerkmale nachweisbar sind, die ein Bewusstsein für sich selbst oder die Umgebung erkennen lassen.

Kriterien: Um die Diagnose MCS zu stellen, wurden spezifische Kriterien erstellt, von denen mindestens eines erfüllt sein muss. Diese Kriterien wurden per Übereinkunft festgelegt.
1. Das Befolgen von einfachen Aufforderungen
2. Klar verständliche sprachliche Äußerungen
3. Zielbewusstes Verhalten, eingeschlossen sind dabei auch Bewegungen oder affektive Verhaltenmuster, die in einer möglichen Relation zu relevanten Umgebungsstimuli stehen und die kein Reflexmuster darstellen.
Als Beispiele für solches Verhalten werden aufgeführt:
- Adäquates Lachen oder Weinen als Antwort auf sprachliche oder visuelle emotionale Reize, das bei emotional neutralen Stimuli nicht auftritt
- Vokalisationen oder Gesten, die als direkte Antwort auf eine Frage auftreten
- Greifen nach Objekten, wobei eine klare Beziehung zwischen Ort des Objektes und Richtung des Greifens nachweisbar ist
- Berühren oder Festhalten eines Objektes in einer Weise, in der Größe und Form des Objektes berücksichtigt wird
- Augefolgebewegung oder anhaltende Fixation von sich bewegenden Objekten oder von „ins Auge fallenden“ Objekten.

Gleichzeitig wurden auch Kriterien erarbeitet, die ein „Erwachen“ aus dem MCS anzeigen, die also die Diagnose eines MCS ausschließen.

Die Diagnose des MCS darf demnach nicht gestellt werden, wenn folgendes nachweisbar ist:
- Eine funktionelle interaktive Kommunikation
- Der funktionelle Gebrauch von zwei verschiedenen Objekten

Um dies am Patienten zu überprüfen, wurden folgende Kriterien vorgeschlagen:
Kommunikation: Genaue Ja/Nein-Antworten bei allen von 6 Fragen in zwei verschiedenen Situationen. Die Fragen sollen einfach und an der Situation orientiert sein, z.B. „Sitzen Sie gerade?“ oder „Zeige ich gerade zu Decke?“
Gebrauch von Objekten: Angemessener Gebrauch von zwei verschiedenen Objekten an zwei unterschiedlichen Zeitpunkten. Ein angemessener Gebrauch kann dabei z.B. seien, einen Kamm zum Kopf oder einen Bleistift zum Papier zu bringen.
Einschränkend wurden von den Autoren darauf hingewiesen, dass es eine Reihe von klinischen Einschränkungen geben kann, die die Diagnose oder den Ausschluß eines MCS erschweren oder gar nicht erlauben. Genannt werden hier akinetischer Mutismus, Aphasie, Agnosie, Apraxie oder sensomotorische Einschränkungen. Weiter wird die Diagnose eines MCS bei Kindern unter drei Jahren abgelehnt.
Prognose: Zur Prognose des MCS wird nur eine Arbeit zitiert. Hier wurde die Diagnose des MCS retrospektiv gestellt und die Prognose mit Patienten im vegetativen Status verglichen.
Die Prognose der MCS Patienten war dabei deutlich besser, insbesondere bei Patienten mit Schädel-Hirn-Traumata.

Kommentar:

Das Papier dieser Arbeitsgruppe wird sicherlich in den nächsten Jahren gerade in der neurologischen Intensivmedizin eine große Bedeutung haben. Wir alle kennen gerade die Patienten, die z.B. nach einer Hypoxie gerade ein bisschen mehr Reaktionen bieten, als ein Patient im vegetativen Status per Definition machen darf. Es besteht ein klinischer Bedarf, für diese Patienten-Gruppe eine Beschreibung zu finden und exakte Definitionen zu erstellen. Daher kann aus meiner Sicht erwartet werden, dass dieser Begriff Einzug in den klinischen Sprachgebrauch halten wird.

Von den Patienten-Interessen-Vertretern wird der Begriff scharf abgelehnt, da ein Missbrauch, insbesondere eine Ausweitung der Euthanasie-Bewegung auf diese Patienten-Gruppe befürchtet wird. Solche Diskussionen finden sich auf diversen Sites im Internet. Eine Suche zum Thema „minimally conscious state“ führt rasch zu aktuellen Diskussionen.

Die dargestellten Kriterien sind nach meiner Meinung für den klinischen Alltag brauch- und umsetzbar. Der wesentliche Punkt mit diesem Begriff wird jedoch die klinische Interpretation und Wertung werden.

Wie bereits in der Artikel-Zusammenfassung dargestellt, gibt es eine Reihe von Situationen, in denen eine exakte Einordnung unmöglich gemacht wird. Dabei werden die genannten Zusatzfaktoren eher die Regel als die Ausnahme sein. Welcher Patient nach einem Schädel-Hirn-Trauma hat keine „sensomotorischen Defizite“ ? Es bleibt abzuwarten, ob der Begriff des MCS dadurch so verwässert wird, das er klinisch zwar einen bestimmten Zustand beschreiben kann, aber keinerlei Rückschlüsse auf die Prognose möglich sind. Grundsätzlich muss hier auch in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass die Datenlage bezüglich der Prognose eines solchen Patienten derzeit völlig unzureichend ist. Therapeutische Rückschlüsse oder gar die Entscheidung zum Therapie-Abbruch dürfen mit diesem Begriff auf keinen Fall verbunden werden.

Weiterhin bleibt unklar, auf welche Krankheitsbilder dieses Syndrom angewandt werden soll. Entwickelt hat sich der Begriff des MCS aus der Traumatologie und der Prognose-Abschätzung bei Patienten mit hypoxischen Hirnschäden. Grundsätzlich wäre er jedoch auf viele andere z.B. degenerative Krankheitsbilder wie der Demenz anwendbar. Damit käme es zu einer weiteren Ausweitung des Begriffes, der dann klinisch kaum noch zu interpretieren wäre. Es ist bereits hier zu fordern, dass alle Untersuchungen zum MCS die Ätiologie der Grundkrankheit differenzieren müssen und dass es beim individuellen Patienten z.B. nur heißen kann: „MCS nach Schädel-Hirn-Trauma“.

Die Arbeit sollte bekannt werden, da der Begriff des MCS eine Reihe von alltagsrelevanten Diskussionen hervorrufen wird.

(R. Biniek)